Was der Flaneur in den Augen der Magersüchtigen entdeckt
Am Rande der Leipziger Poetikvorlesung 2009 mit der Nobelpreisträgerin Herta Müller im Alten Rathaus streicht man sich zufrieden über den Bauch, so ein Andrang. Hätte sie nicht diesen Preis bekommen, hätte es sicher anders ausgesehen. „Vielleicht“, überlegt im kleinen Kreis Hans-Ulrich Treichel, der dem veranstaltenden Literaturinstitut mitvorsteht, „sollten wir im nächsten Jahr einen ganz unbekannten Literaten nehmen, einen, der noch keine Preise hat, dann könnte man sich hier langlegen“ .„Och“, sagt da ganz bescheiden Christian Kreis, „ich wüsste da einen“, und tritt einen Schritt vor.
So versuche ich nun mir eine Poetikvorlesung von Christian Kreis im Alten Rathaus vorzustellen. Titel der Vorlesung: Die Gesellschaft ernährt ihre Flaneure nicht!, so beginnt das erste Gedicht „Wütender Ausruf“ im FIXPOETRY- Leseheft No 10. Denn der Dichter sieht sich als „Zecke am Leib der Gesellschaft“, wo er noch ein „paar Tropfen zischen“ will, bevor er in den Staub zurückfällt. Ja und warum denn eigentlich nicht, wenn man bedenkt, welche Zecken vom Leib der Gesellschaft zehren, dann doch lieber einen Kreis als eine Bank! Und seht, wie lieb er ist, er mag lieber Bücher als Kinder: „die schlage ich oft / auf und zu, ohne // daß es irgendwann / Knast gibt“. Oder: „mich an dir vergreifen / wollte ich // aber du warst / schon vergriffen“.
Kreis greift in die Kalauerkiste und spielt: „der Spatz, der muß spazieren / der Diskus diskutieren / doch wie die meisten muß / das Rentier sich rentieren“. Er klaut eine Warnung an Blumendiebe von fremdem Gräbern, rückt sie mit dem Titel „Die Blumen der Bösen“ hin zu Baudelaire und mit Veränderung nur eines Buchstaben wieder weg und dringt dem Leser mit einer Anmerkung ins Gewissen: „Auch du hast bestimmt schon mal ein Grablichtlein mitgehen lassen, ein Blümchen für Mutti.“
Ja, die Blumen, Kreis weiß, wo sie hingehören „zum Geburtstag für Oma“ und soweiter. Aber wer hat nicht auch schon, beispielsweise beim Anblick einer Anthurie, Seltsames gedacht, Kreis spricht es offen aus: „Blumen sind geöffnete Geschlechtsorgane / die gegen Ende hin / sehr stark riechen.“
Christian Kreis reimt „Die Krähe und der Kräherich / die vögeln sich versehentlich“ und – er lässt ihn stolpern, den Reim und schon stehn wir da, wo er uns Leser hinhaben will: „Weil ohne Hand vorm Mund / Gähnt meistens der Abgrund.“ Die Zecke Kreis scheut ihn nicht, den Rumpelreim, den Abgrund ins scheinbar Flache, der Fall ist tiefer, als es auf den ersten Blick aussieht. Und so sehen wir ihn bei der Leipziger Poetiklesung sich smart über das Pult beugen, wenn er die kleingedruckte Anmerkung zu seinem Gedicht „Erinnerung an Baden“ zu uns runterraunt: „Dieses Gedicht darf man eigentlich nur vorlesen, wenn man dick ist. Aber wer ist das nicht in den Augen der Magersüchtigen.“
Ja, hier in nur Zehnpunktschrift steht, was uns auch umtreibt, der Neid der durch die Umstände Runtergehungerten auf den satten plantschenden Wal, die Zecke, die. Kreis bietet uns in seinen kleinen Gedichten, es gibt auch größere – Suaden, nicht in diesem Leseheft – ein verräterrisches Linsengericht. Wer durch die einzelne Linse schaut, sieht mehr, sieht anders. Auch wenn Kreis – bescheiden, wie er ist, wie in „Kasteiung des Joggers“ – ein Bewegungsarmutsgelübde abgelegt hat: „laß standhaft mich / und vor allem / seßhaft sein“, so schön wie Sachsen-Anhalt ist, das Land, in dem Christian Kreis zuhause ist und das ihn auch schon mit dem Georg-Kaiserpreis, dem Förderpreis für Literatur ehrte, er muss raus aus dem Dunstkreis der Magersüchtigen.
Die Leipziger Poetiklesung ist ihm durch diesen Preis nun leider verwehrt, wenn Treichel bei der Maßgabe – jung, unbekannt, keine Preise – bleibt, aber es gibt ja auch noch andere Stellen am Leib der Gesellschaft, die noch offen sind. Kreis macht in seiner Vita interessante Angebote:
Den August-Strammpreis für schreibende Soldaten. Den Neidhard-Aufandere-Förderpreis. Das Spreewald-Literatur-Stipendium für die größte Gurke. 2050, schreibt er, bekommt er den Alfred-Alzheimer-Gedächtnispreis. Schade nur, dass der Flaneur sich dann nicht mehr an seine Fans erinnern kann.
Fixpoetry 2009
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