Tätigkeitsbericht eines Chefredakteurs
Erste Redaktionssitzung
Acht Schüler aus den Klassenstufen 7 und 6 haben sich für den Kurs „Schülerzeitung“ eingefunden. Ich bitte sie darum, ihren Namen auf einen Schild zu schreiben und frage, ob schon jemand Schreiberfahrungen besitzt. Adrian meldet sich. Er fragt, ob er nach Hause gehen darf, seine Mutter wartet bereits auf ihn. Bevor er weg ist, kann ich noch schnell antworten: „Äh, eigentlich nicht“. Er guckt enttäuscht und holt sein Smartphone raus.
Darlyn meldet sich und sagt, daß sie nicht schreiben, sondern lieber malen möchte. Ich gebe zu bedenken, daß in einem Schreibkurs unter Umständen auch mal was geschrieben werden muß. Darlyn überlegt einen Moment und sagt dann, sie möchte aber trotzdem malen, und holt ihr Smartphone raus.
Neben ihr sitzt Shirley-Marilyn mit einem Smartphone in der Hand, aus dem Musik ertönt. Ich versuche, keine Vorurteile aufgrund ihres Namens zu hegen.
Manuel streckt den Arm nach oben und schnippst mit den Fingern, er ruft: „Tipps für Call of duty“, Tipps für Call of duty“. Ich weiß nicht, was Call of duty bedeutet. Vermutlich werde ich sofort als uncool eingestuft, wenn ich diese Wissenslücke zugebe. „Mal sehen, wir sammeln erst mal Ideen“, sage ich und appelliere an alle, die Smartphones wieder einzustecken.
Ohne Smartphonebeschäftigung nimmt Adrian sein Namensschildchen, rollt es zusammen und pustet damit Manuel ins Ohr. Manuel reißt es ihm aus der Hand und wirft es auf den Boden. Adrian kriecht unter den Tisch. Manuel wirft Adrians Federmappe in die Luft. Ich ermahne, dies zu unterlassen. Manuel grinst mich an und läßt die Mappe auf den Boden fallen.
Vielleicht bleiben die Jungs geistig am Ball, wenn wir keine Schülerzeitung herstellen, sondern ein Pornoheft. Zur Recherche könnten sie ihre Smartphones verwenden. Letzten Endes geht es ja nur darum, Kreativität freizulegen und die Kinder dazu zu ermutigen, eine Sache zu Ende zu führen.
Zu Hause ruft mich die Koordinatorin an, sie erkundigt sich, ob es gut gelaufen sei. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. In gewissen Phasen lief auch die Fahrt der Titanic erfolgreich. Hat sie nicht behauptet, alle Schüler nähmen freiwillig teil? Wenn ein Schüler stört, meinte sie noch, werde er - und dann sprach sie ein für mich sehr tröstliches Wort aus - eliminiert. Da spricht die Praktikerin. Noch gebe ich kein grünes Licht für eine stalinistische Säuberung. Aber gut zu wissen.
Zweite Sitzung
ADHS-Adrian fehlt. Ist er schon „eliminiert“ worden oder gönnt er sich einfach zwei Freistunden. Manuel kaspert mit Achmed, seinem Banknachbarn. Ich habe inzwischen herausgefunden, daß es sich bei Call of Duty um einen blutrünstigen Egoshooter handelt. Ich versuche, Manuel pädagogisch abzuholen und sage, „Du könntest doch eine Rezension, also eine Besprechung, ich meine eine Art Inhaltsangabe darüber schreiben, was Dir an Call of Duty gefallen hat und was nicht. Tatsächlich sollen die Tötungsszenen in diesem Spiel ganz gut sein.“
„Nee, geht nicht“, antwortet Manuel.
„Wieso nicht?“
„Dann weiß mein Vater, daß ich Call of Duty spiele.“
Gerade noch rechtzeitig ist ihm also aufgegangen, daß etwas nicht mehr geheim ist, wenn er es in die Schülerzeitung schreibt. (Sollte Manuels Vater zufällig diesen Bericht lesen, sei ihm versichert, daß alles, was hier steht, im Grunde frei erfunden ist).
Ich schlage Manuel vor, über ein anderes Spiel zu schreiben. Und Achmed, der neben Manuel sitzt und gerade mit dem Lineal auf Manuels Kopf einschlägt, rufe ich zu, daß er das mit Manuel zusammen schreiben soll. Achmed sagt: „Ich bin Ausländer, ich kann nicht schreiben.“
„Integration ist keine Einbahnstraße“, seehofert es mir kurz durch den Kopf, dann lasse ich ein Blatt rumgehen für eine Email-Liste, damit wir uns mit den hoffentlich trotzdem entstehenden Zwischenergebnissen austauschen können.
„Was!!, Wieso?? Email-Liste,“ empört sich Shirley-Marilyn und guckt mich an, als hätte ich „Keilschrift“ gesagt.
Vivian ruft, „Wir machen eine Whatsapp-Gruppe“.
Ich sage, „mein Handy hat kein Whatsapp“.
Vivian: „Dann kaufen sie sich mal ein neues.“
Mit einem Anflug von Migräne beende ich die Stunde. Ringsum in diesem Neubauviertelgebiet sitzen gerade etliche Hartzvierer auf dem Sofa und trinken Bier. Im Gegensatz zu mir haben sie heute einiges richtiger gemacht.
Dritte Sitzung
Vivian: „Müssen wir wieder die Tische im Kreis aufstellen?“
„Ja, dann können wir uns besser ansehen.“
„Aber ich will niemanden besser sehen“.
Ich möchte Vivian schlagen. Leider habe ich im Laufe des Lebens gelernt, meine Aggressionen zu kontrollieren.
Darlyn meldet sich nun zum x-ten Mal. In der letzten Stunde haben wir uns darauf geeinigt, daß sie, wenn sie schon nichts schreibt, eine Karikatur malen soll, aber nun meldet sie sich ununterbrochen und sagt den immergleichen Satz: Sie sei sie nur aus Irrtum (sic) für den Kurs eingetragen worden und möchte nun lieber nicht mehr kommen.
Ich sage, daß ich das nicht entscheiden kann, das solle sie bitte mit ihrer Klassenlehrerin absprechen.
„Die Klassenlehrerin hat gesagt, ich soll das mit dem Kursleiter absprechen“.
Ich sage erneut: „Ich kann das nicht entscheiden, sprich bitte noch mal mit Deiner Klassenlehrerin. Es wäre aber schön, wenn Du es mit der Karikatur wenigstens versuchen würdest?“
„Na gut, sagt Darlyn, „aber ich bin nur aus Irrtum für den Kurs eingetragen worden und …“
Shirley-Marilyn kräht, „wann machen wir endlich Schluß, Herr Kreis“. Es wäre angebracht, ihr nun zu sagen, daß sie genauso dumm ist, wie sie heißt. Doch das ist nicht gestattet. Man soll Kinder nur in ihrem Selbstbewußtsein stärken und ihre Talente fördern. Warum bietet die Schule keinen Tabledancekurs für alle Mädchen mit blödem Vornamen an? Ob sich überhaupt ein einziger Schüler freiwillig zu meinem Kurs gemeldet hat? Freiwillig wie ein Harztvierer zur Spargelernte? Oder so freiwillig wie ein geldknapper Autor für einen Job in der Schule. An der Tür des Klassenraumes entdecke ich beim Rausgehen einen Zettel mit den Klassenregeln:
- Während des Unterrichts bleiben wir auf unseren Plätzen sitzen.
- Wir melden uns, wenn wir etwas sagen wollen.
- Wir lassen uns gegenseitig ausreden.
- Wir betreten den Klassenraum ohne Kopfbedeckung.
Bei Nichteinhaltung der Regeln folgt als Endkonsequenz der Trainingsraum!
Eins kann ich mir zugute halten, niemand kam bisher in den Klassenraum mit einer Kopfbedeckung.
Vierte Sitzung
Es ist ohrenbetäubend. Gegenstände fliegen. Ich raste aus. Ich brülle, daß ich keine Lust mehr habe, hier rumzubrüllen. Und warum sie überhaupt hier seien, wenn sie gar keinen Bock hätten. Dann stoße ich die schlimmstmögliche Drohung aus: „Ihr kommt alle in den Trainingsraum!“ Einige kichern. Es mag vielleicht so erscheinen, als hätten die Schüler keinen Respekt vor mir. Und es ist auch so. Warum mußte ein sinnvolles Instrument der klassischen Pädagogik, wie es der Rohrstock gewesen war, so in Mißkredit geraten?
Vivian pampelt, sie sei nur hier, weil sie an diesem Kurs teilnehmen muß. Auch die anderen bestätigen dies. Ich wußte es doch. Der Sender Gleiwitz wurde nicht von den Polen überfallen. Im Irak gab es keine Massenvernichtungswaffen. Kein Schüler ist freiwillig hier.
Vivian lacht laut ihr Mädchenhöllengelächter.
Ich höre mich sagen: „In die Ecke Vivian, mit dem Gesicht zur Wand.“
„Aber das dürfen sie nicht, Herr Kreis.“
„Können wir heute eher gehen“ quengelt der Rest der Bande und reißt mich aus meiner Bestrafungsfantasie.
Eher gehen? Von mir aus sofort, und am besten endgültig, nur sind in Deutschland Schulmassaker viel zu selten. Ich brülle, „Nein“.
Fünf Minuten später sage ich, „Ja“. Machen wir halt eher Schluß. Zum ersten Mal entdecke ich Begeisterung in ihren Gesichtern. Bin ich ein schlechter Pädagoge? Quatsch. Selbstkritik ist doch völlig fehl am Platze, solange man die eigenen Fehler gut verdrängen kann. Ich werde die Koordinatorin anrufen und sie um die Eliminierung aller Kursteilnehmer bitten. So eine Schülerzeitung schreibt sich doch viel besser ohne Schüler. Es wäre eine Schülerzeitung ganz nach meinem Geschmack mit Buchrezensionen, literarischen Essays und Kurzgeschichten.
Fünfte Sitzung
Ich sitze im Klassenraum, vor mir liegt ausgebreitet die Zeit. Habe die Koordinatorin doch nicht angerufen. Womöglich kommt sie noch auf die Idee, ohne Schüler wäre eine Fortführung des Kurses nicht sinnvoll. Und so wie ich sie einschätze, würde sie mir auch kein Honorar für die Stunden zahlen, die nicht stattgefunden haben.
Vivian fragt, wann es endlich losgeht.
„Gleich“, sage ich und blättere in der Zeit, damit die Schüler mal sehen, wie eine Zeitung überhaupt aussieht.
Darlyn meint, das sei voll langweilig.
Ich sage, daß sie mir genau zuschauen soll und ansonsten die Klappe halten.
Nach ungefähr zehn Minuten gehe ich raus, eine rauchen.
Immerhin können sie sich mit Hilfe ihrer Smartphones selbst beschäftigen. Das kommt der sogenannten Stillen Arbeit schon recht nah, nur daß es nicht still ist.
Bevor ich in den Klassenraum zurückkehre, den ich vorsorglich abgeschlossen habe, damit mir die kleinen Biester nicht abhauen, gehe ich aufs Lehrerklo, um ein During-work-Bier zu trinken. Die letzte halbe Stunde vergeht dadurch ganz entspannt. Am Ende mache ich wie immer Schluß.
Sechste Sitzung
Ich mache gleich zu Beginn Schluß. Sie sollen es aber niemandem erzählen. Alle sind begeistert. Endlich Ruhe zum Arbeiten. Mit meinen frühen Texten fülle ich den Literaturteil der Schülerzeitung. Die sind glaubwürdig schlecht genug dafür. Über jeden Text setze ich den Namen eines Schülers. Shirley-Marylin ist nun die Verfasserin einer Geschichte, deren Protagonist in der DDR aufwuchs. Falls jemand kritisiert, daß sie weder in der DDR geboren noch männlich ist, sollte wissen, daß man gute Literatur immer daran erkennt, daß sie überhaupt nichts mit dem Leben des Autors zu tun hat. Sogar Achmed hat etwas geschrieben, nämlich eine Kolumne aus der Perspektive eines Mannes, der sein Leben als mäßig erfolgreicher Autor zum Thema macht. Man wird Achmed dafür bewundern. Den Rest kopiere ich aus verschiedenen Schülerzeitungen zusammen, die man problemlos im Internet findet.
Siebente Sitzung
Siehe sechste Sitzung.
Bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis.
Nachtrag
Die Koordinatorin hat sich für die gute Zusammenarbeit bedankt. Es wäre sehr schön, wenn ich im nächsten Schuljahr wieder die Schülerzeitung betreuen würde. Auch ich bedanke mich für die interessanten Erfahrungen, die ich sammeln durfte. Behalte mir vor, auf das Angebot zurückkommen, falls es bis dahin mit dem wohlverdienten Posten als Kolumnist bei der Zeit nichts wird.
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