Vom Nest zum Gut
Einer der bedeutendsten Klassiker der russischen Literatur in einem nicht klassikerarmen 19. Jahrhundert, Das Adelsgut, vormals -nest ist im Manesse Verlag neuübersetzt erschienen. Verfasser Iwan Turgenjew ist ein eigentümlicher Zeitgenosse, stets reich genug gewesen, sich ganz dem Schreiben zu widmen, andererseits voller Phobien und letztlich im Pariser Exil, familienlos, in merkwürdigen Salonbündnissen und zuletzt schwer von der Kritik aus dem eigenen Land gescholten, dem er einst als neue Hoffnung der Literatur galt, an heftigem Krebsleiden gestorben. Warum eine Neuübersetzung? Sie bietet auf jeden Fall eine Entschlankung, liest sich fließend und zusammen mit dem interessanten Nachwort von Michail Schischkin wird ein nicht-unkritisches und dennoch würdigendes Bild dieses bedeutenden, nicht immer glücklichen Schriftstellerlebens gezeichnet.
Ob jetzt seine Prosa "gut sei fürs Atmen" etc., wie es im Nachwort heißt, kommt sicher auf die Perspektive und den Stand der Lesenden an. Auf jeden Fall ist sie berückend, wie in den Wolken. Sie lebt von einer fast idiosynkratischen Abstraktion, obwohl sie als hochrealistisch gerühmt wird. Anders als bei Dostojewski, Tolstoj passiert nahezu nichts, man kann den Wolken beim Verdunkeln zuschauen, oder alles über den sich epochal ankündigenden Augenblick wissen, jede Staffage, jedes Detail, in dem sich die beiden potentiell Liebenden (doch nicht) angucken und vorbeigehen und sich im Nichtgeschriebenen das, was hätte sein können, ausbreitet. Dafür benötigt es Empathie mit den Figuren. Was im humorbefreiten, schichtenweisen Erzählen Turgenjews nicht immer leicht ist. Entscheidungsarme Privilegierte sind keine scharfe Kost, um sie bei ihrer Blasiertheit zu beobachten. Christiane Pöhlmann gelingt es dennoch, Kurzweil hineinzubringen. Archetypisch mag folgende Szene sein:
"Sie?", sagte sie. "Was machen Sie hier?"
"Ich... Ich... Hören Sie mich an", flüsterte Lawrezki, fasste nach ihrem Arm und führte sie zu Bank.
Sie folgte ihm ohne Widerspruch; ihr blasses Gesicht, ihr regloser Blick und all ihre Bewegungen drückten unsagbare Verwunderung aus. Lawrezki ließ sie Platz nehmen, er jedoch blieb vor ihr stehen.
"Ich hatte gar nicht die Absicht herzukommen", begann er. "Mein Füße haben mich von selbst hergeführt. Ich... Ich... Ich liebe Sie", gestand er, unwillkürlich entsetzt über seine Worte.
Lisa richtete ganz langsam den Blick auf ihn; ihr schien erst in diesem Augenblick aufzugehen, wo sie sich befand und was sich hier zutrug. Sie wollte sich erheben, vermochte dies aber nicht und bedeckte stattdessen nur ihr Gesicht mit den Händen.
"Lisa", sagte Lawrezki. "Lisa", wiederholte er und ging vor ihr auf die Knie.
Ihre Schultern erfasste ein leichtes Zittern, die Finger ihrer blassen Hände pressten sich noch fester gegen ihr Gedicht.
"Was ist Ihnen", erkundigte sich Lawrezki und vernahm ein leises Schluchzen. Ihm stockte das Herz ... Nun hatte er verstanden, was diese Tränen bedeuteten. "So lieben Sie mich auch?", hauchte er und berührte ihre Knie.
"Stehen Sie auf!", verlangte sie. "Stehen Sie auf, Fjodor Iwanytsch. Was sollen wir nun bloß tun?"
Turgenjew lässt es im weiteren Verlauf versacken, verahnen, verziehen. Vielleicht fast wie sein eigenes Leben, wie das Nachwort mutmaßt. Es gibt eine Auflösung, aber es ist eher ein geänderter Aggregatzustand, keine Lösung. Er schreibt selbst auf der letzten Seite:
"Und das ist das Ende?", mag ein unzufriedener Leser fragen. "Was geschah dann mit Lawrezki? Mit Lisa?" Doch was kann man über Menschen sagen, die obgleich sie noch leben, ihr irdisches Dasein bereits beendet haben?
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