Vielfältige Dimensionen
Denken wir an „Literaturkritik“, erscheint vor unserem geistigen Auge „Literatur-Papst“ Marcel Reich-Ranicki, der einen Roman in Stücke reißt. Oder eine Talkrunde von Experten in Sachen Belletristik, die in abgehobener Sprache über die Erstlinge junger Autoren debattieren. Literaturkritik ist in diesen Bildern eine Angelegenheit spezieller Köpfe (der „Literaturkritiker“ eben), die sich gezielt mit schöngeistigen Texten auseinandersetzen, um dem interessierten, gleichwohl unkundigen Publikum ein Urteil zur Verfügung zu stellen, das die Kauf- bzw. Leseentscheidung maßgeblich beeinflusst.
Dass dies eine sehr enge Sicht ist, die lediglich einen Teilbereich der Literaturkritik in den Blick nimmt, nämlich das Segment dezidierter professioneller Gutachten in Form von Analysen, Rezensionen und Besprechungen, macht der Sammelband Große Literaturkritiker deutlich, den der Innsbrucker Germanistik-Professor Sigurd Paul Scheichl herausgegeben hat. Er nimmt sich anhand ausgewählter Beispiele allgemeiner Phänomene der Literaturkritik an, die weit über die Feuilleton-Formate hinausweist: die Jedermann/-frau-Literaturkritik im Alltag, die Literaturkritik im Rahmen belletristischer Texte, Dichter und Autoren als Kritiker, Stiluntersuchungen zu analytischen Texten sowie die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Literatur- und Gesellschaftskritik. In der Auswahl der behandelten Größen der Literaturkritik fällt die Internationalität auf: Nicht nur der deutschsprachige Raum ist vertreten, sondern auch beispielsweise Frankreich und Russland. Auch in zeitlicher Hinsicht deckt der Band das gesamte Spektrum von der Antike bis zur Gegenwart ab.
Der Band ist Resultat einer Ringvorlesung – mit allen Vor- und Nachteilen dieses Formats: hochrangige Vertreter des Fachs sprechen bzw. schreiben kompetent über ein verbindendes übergeordnetes Thema, konkretisiert anhand von Fallbeispielen in recht willkürlicher Auswahl. Im einführenden Beitrag, der aus dem Eröffnungsvortrag der Ringvorlesung entstand, macht der Herausgeber deutlich, dass Literaturkritik mehr ist als Rezensionen und Analysen – jede Missfallens- oder Zustimmungsbekundung – ob privat oder öffentlich vollzogen – ist Teil eines komplexen Konzepts, das Literaturkritik als „omnipräsent“ betrachtet: elementare, alltägliche Erscheinungsformen der Kritik treten neben die expliziten literaturwissenschaftlichen Formate, mündliche und private Äußerungen ergänzen – oft sehr erhellend – die öffentlichen Kritikarten, emotionale Wertungen lassen die reflektierten Beurteilungen in einem anderen Licht erscheinen. Kritik an Literatur wird in Wort, Schrift und Tat geübt, von Leser/inne/n, berufsmäßigen Kritiker/inne/n und nicht zuletzt auch von den Autor/inn/en.
Literaturkritik verhandelt zudem nicht nur fertige, veröffentlichte Werke, sondern sie greift auch in Entstehungsprozesse ein und kann so die Texte verändern oder gar deren Publikation verhindern. Trotz der großen Bedeutung der Literaturkritik wird sie im Vergleich zu den belletristischen Arbeiten der Schriftsteller eher gering geschätzt: In Werkausgaben erscheinen sie marginalisiert im letzten Band. Die Aufwertung der analytischen Arbeiten ist daher auch ein Anliegen des Sammelbandes, der sich dem Thema „Literaturkritik“ in vielfältiger und kenntnisreicher Weise nähert. Hervorzuheben ist neben der orientierenden Einführung Scheichls insbesondere eine erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte Besprechung Charles-Augustin Sainte-Beuves, des wichtigsten französischen Literaturkritikers des 19. Jahrhunderts – die Übersetzung besorgte Katharina Köllemann.
Fixpoetry 2011
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben