Der Wein jener Nächte
Im Oktober 1977 fand in Teheran eines der größten und bedeutendsten Literatur-Events des 20. Jahrhunderts statt – und zugleich ein Event, das im Rückblick wohl den knapp zwei Jahre später folgenden Sturz des Schah-Regimes einläutete: Die Zehn Nächte. So lange dauerte der Lese-Marathon, organisiert vom iranischen Schriftstellerverband und dem Teheraner Goethe Institut, dem Zehntausende lauschten.
Kurt Scharf war damals stellvertretender Leiter des Goethe Instituts und organisierte die Lesungen mit, an denen die namhaftesten iranischen Schriftsteller teilnahmen. Später gab Nassir Maozan eine Anthologie heraus, um die Erinnerung an das denkwürdige Ereignis zu bewahren. Und Kurt Scharf brachte die teilnehmenden und einige weitere Lyriker in die deutsche Sprache – zuerst mit seinen Anthologien „Noch immer denke ich an jenen Raben“ (Radius Verlag, Stuttgart 1981) und „Der Wind wird uns entführen“ (C.H. Beck, München 2005). Es waren diese beiden Bücher, die die Wahrnehmung der modernen persischen Lyrik in Deutschland maßgeblich geprägt haben – neben der von Cyrus Atabay edierten Sammlung „Gesänge von Morgen. Neue iranische Lyrik“ (Classen, Düsseldorf 1968).
Unter dem Titel „Halt aus in der Nacht bis zum Wein. Eine Auswahl der schönsten persischen Gedichte des 20. Jahrhunderts“ legt Scharf nun im Bremer Sujet Verlag einen weiteren so umfang- wie kenntnisreichen Band vor, der auch für jene interessant ist, die mit der persischen Lyrik bereits vertraut sind, da Scharf es vermeidet, auch von den großen Namen wie Ahmad Schamlu, Forough Farrochsad oder Nima Yushidj jene Gedichte auszuwählen, die Eingeweihten wohlbekannt sind, sondern auf weniger populäre aber nicht minder lesenswerte Texte setzt.
Einzige herausragende Ausnahme ist Sohrab Sepehri, dessen beeindruckendes Langgedicht „Der Klang vom Gang des Wassers“, in dem Sepehri nichts weniger versucht, als das ganze Leben in einem lyrischen Werk zu fassen, enthalten ist. Und einmal mehr wundert man sich, dass es von diesem dichterischen Giganten auf Deutsch bislang nichts außer einer Handvoll verstreuter Anthologiebeiträgen gibt. Vielleicht wäre Sepehri selbst diese Nichtbeachtung gar nicht so unrecht, zieren doch seinen Grabstein in Kaschan die Verse „Wenn ihr kommt, mich zu besuchen / Kommt sanft und sacht, damit mir nicht / Das zarte Porzellan der Einsamkeit zerbricht.“ Dennoch – das ist eine klaffende publizistische Lücke, die noch gefüllt werden will.
Die Zehn Nächte waren, so schreibt Kurt Scharf in seinem Nachwort, „der Höhepunkt in der Entwicklung der modernen persischen Lyrik und zugleich das Ende der Epoche, in der sie die wichtigste Kunstform gewesen war. Es wurde zu einem massiven Protest gegen die Zensur und die Beschränkung der Freiheit allgemein.“ Dass es nach der Revolution unter Chomeinis Gewaltherrschaft nur noch schlimmer werden würde, ahnte damals noch kaum jemand, zu groß waren die Hoffnungen auf einen Wandel.
Das lässt sich durchaus auch in den vorliegenden Gedichten spüren, von denen nicht wenige zwischen den Zeilen (die iranischen DichterInnen waren und sind geschickt darin, mit verschlüsselten Formulierungen die Zensur zu umgehen) gegen die Repression aufbegehren. Der Großteil der Texte stammt aus der Zeit von vor 1979, eine Handvoll sind jüngeren Datums. Das Aktuellste ist wohl Yadollah Roais Fünfzeiler „Neda“, der auf eine im Zuge der Aufstände von 2009 durch Sicherheitskräfte ermordete Demonstrantin anspielt:
Dem blutbefleckten Antlitz meiner Tochter, Neda
Du, die ihr Leben in der ersten Reihe hingegeben
Vor deiner Brandung sei die Welt mir bloßer Schaum und welkes Gras!
Und deine Anmut diene uns als Maß
für unser ganzes Leben!
Während Mahmud Kianusch gegen die „Gottesmänner“ poltert und der heute in Köln lebende Huschang Ebtehadj in „Trauriger Frühling“ an den 1953 von den USA aus dem Amt geputschten demokratischen Ministerpräsidenten Mossadegh erinnert, finden sich bei weitem nicht nur politische Gedichte in der Sammlung. Die formale und inhaltliche Bandbreite ist groß. Liebesgedichte wechseln sich ab mit metaphernreicher Naturlyrik, Anspielungen auf die großen Klassiker Hafez und Rumi stehen neben melancholischen Sprachspielen.
Und während manch sozialistisch-agitativer Vers heute arg angestaubt, manche nationalistische Lobpreisung anachronistisch wirkt, so findet sich doch auch vieles, das höchst aktuell, ja zeitlos ist – angefangen freilich mit Sepehri, Schamlu und Farrochsad, die in keinem gut sortierten Kanon der Weltliteratur fehlen dürfen. Ebenso wenig wie die vorliegende Anthologie, die in gewisser Weise noch immer Pionierarbeit leistet, um die persische Lyrik für deutsche Leser zu erschließen.
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