Ein Ereignis
Koleka Putumas Weckruf aus der kollektiven Amnesie ist ein Ereignis. Die gerade bei Wunderhorn erschienene zweisprachige Ausgabe, die Putumas Gedichte mit der Übersetzung von Paul-Henri Campell ergänzt, präsentiert unbequeme Gedichte, die weh tun. Denen, die immer noch schweigen, denen, die das Schweigen durchbrechen und jenen, die sich gerne weiterhin weiß machen würden, dass sie all das nichts angeht.
Im Zentrum des 2017 in Kapstadt erschienen Gedichtbands, der in Südafrika mittlerweile in der 9! Auflage verkauft wird, stehen Themen wie Gender, Sexualität, Missbrauch, dem Kampf gegen Korruption und die Freiheit des Andersseins, aber auch spiritueller Religionskritik. Es sind Verse, die zurückschlagen, und dabei auf nichts Rücksicht nehmen, außer auf die Sprache.
„Kollektive Amnesie“ folgt dabei durchaus einer chronologischen Dramaturgie. So beginnen die Gedichte mit den Geschichten, die man geerbt hat, und enden mit der Forderung nach Gerechtigkeit. Dazwischen liegt der harte und schwere, immer wieder vom Außenblick begrenzte Weg vom Ausgangspunkt zu diesem hart erkämpften Standpunkt:
„[…] Immer wenn sie uns über unsere schwarze Kindheit ausfragen,
sind sie ausschließlich an unseren Leiden interessiert,
als seien die Freudenanteile bloß Zufall gewesen.“
Ein Weg voller Berge1 , die nicht bestiegen werden dürfen, wenn eine die falsche Hautfarbe hat, voller Privatsachen, Ausgrenzungen, voller Gewalt und Lügen und einer unbändigen Wut und Lebenslust, einem so kraftvollen Trotzdem, dass es gleichzeitig weh tut und befreiend ist.
Aufrecht und selbstbewusst, wehrt sich Putuma gegen nach wie vor lebendige Zuschreibungen, Erwartungen und Vorurteile, die den Blick auf die eigene, empfundene Geschichte verstellen. Souverän setzt sie ihre kraftvolle Selbstbehauptung der Aneignung der eigenen Geschichte durch andere entgegen.
Traditionen und vermeintlicher sowie echter Mangel erhalten auf diese Weise eine weitreichende Geschichte der Vielfalt im Eingeschränkten und der Freiheit im Begrenzten. Das sich vordergründig auf die Praxis des Auftragens der Kleidung von Generation zu Generation speisende Gedicht trägt seine metaphorische Bedeutung wie eine zweite Haut:
„Wo ich herkomme,
war Weitergereichtes nicht immer freiwillig
(manchmal) war es alles, was es gab.
(manchmal) war es Liebe, die
sprach: Ich habe versucht, es für dich wie neu zu erhalten.
Sprach: Trage dies in Erinnerung an mich.
Sprach: Ich werde nicht satt sein, wenn du nicht isst.(manchmal) war Weitergereichtes ein Opfer, das sprach:
Ich bin da.
Egal, was ist.“
Koleka Putuma, die mit spoken poetry auf sich aufmerksam machte, bevor die 1994 in Südafrika geborene Tochter eines Pastors mit ihrem Debüt „Collective Amnesia“ einen ebenso überraschenden wie verdienten Erfolg2 erfuhr, ist eine begnadete Performerin. Ihre Gedichte leben von kraftvoller Direktheit, sie verzichten ebenso auf jegliche Klischees wie auf Rücksichten und Zurückhaltung.
Dabei versteht sie es ihre Wut und Energie experimentierfreudig in zahlreiche unterschiedliche Formen fließen zu lassen. So kommen ihre Gedichte als Listen daher, als Lexikoneinträge oder Fußnoten, als Bühnenszenen, in äußerster Reduktion oder als seitenlange Anklage. Jedes Gedicht findet die ihm entsprechende Form.
Natürlich weiß Putuma Refrains, Musikalität und Remix gewinnbringend zu nutzen. So entwickeln ihre Gedichte auch beim Lesen einen Sog, der fesselt und berührt, weil man hier die Trauer und Verzweiflung, die unter der offensichtlichen Wut liegt, spüren kann. Sieht man sich eines ihrer zahlreichen Videos an, wird die Energie und Leidenschaft mit der Putuma dichtet nahezu spürbar. Die Übersetzung fängt diese Ambivalenz und Kraft leider an vielen Stellen nicht ein, und wird dem gerechten Zorn, der aus so vielen ererbten Ungerechtigkeiten und Gewalttaten, Generationen später ausbricht, der im englischen Original spürbar ist, nicht immer gerecht.
„Kollektive Amnesie“ versammelt wehrhafte Gedichte, die überzeugen, weil sie sich nicht in die Opferrolle begeben, weil sie Forderungen stellen und die oberflächlichen „Erfolge“ genauer beleuchten. Die Gleichberechtigung ist in Südafrika 30 Jahre nach dem Ende der Apartheid noch längst nicht erreicht. Nicht zuletzt, weil die Menschen unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben, die ihre Biografie und die ihrer Nachkommen beeinflussen.
Putumas Gedichte sind kein Appell, sondern das Gebot jetzt endlich die Augen zu öffnen, den Generationen lang still geduldeten Verletzungen und Ungerechtigkeiten Raum und Sprache zu geben.
Zum Beispiel der schmerzhaften Tatsache, dass das Ende der Apartheid nicht das Ende der Unterdrückung war und Gleichberechtigung noch immer nicht erreicht ist.
Das Erbe anzunehmen, bedeutet das Ererbte zu verändern, sich damit auseinander zu setzen. Zu streiten, statt hinzunehmen. Hinsichtlich der Haltung ist Putuma vielleicht am ehesten mit Max Czollek vergleichbar, der mit einigem Furor gegen die stille Opferrolle andichtet und schreibt.
Das ist nicht leicht, weil die Grenzen unklar sind, aber es ist vor allem unmöglich, ohne sich selbst angreifbar zu machen.
Nichts desto weniger ist es alternativlos notwendig, um endlich aufzuwachen und andere aufzuwecken aus der kollektiven Amnesie.
- 1.
Das Gedicht „Mountain“ erzählt von einer alten weißen Frau,
[…] in ihren Pyjamas hinter mir auf
Afrikaans
sagt, das hier ist Privatbesitz…
Ich frage mich, warum ich versteh, was sie sagt,
und warum sie den Berg als privat bezeichnet […]
Es geht mir hier nicht um die Hautfarbe. Es ist nichts Persönliches.“ - 2. Ein Jahr nach ihrem Debüt, 2018, wurde Koleka Putuma vom Forbes Magazin in die Liste der 30 vielversprechendsten afrikanischen Kreativen unter 30 Jahren aufgenommen.
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