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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Dichtung von Abaelard bis Zoroaster

Hamburg

Dichte Sprache. Neue, eindrückliche Bilder. Tiefgründige Beobachtungen. Anspielungsreichtum. Originelle Einfälle, die immer auch eine humorvolle Seite haben. – Dies sind in aller Kürze die herausragenden Merkmale Steinherrscher Dichtung. Und dazu der typische Klang eines Steinherr-Gedichts – ein Wort, das beinahe klingt wie Steinway-Klavier, und – nomen est omen? – auch voller Musikalität ist. Darin klingt etwas!

Das Publikum lausche nun bitte aufmerksam Ludwig Steinherrs neuen Versen: Ganz Ohr ist der Titel seines jüngst erschienenen Gedichtbandes – immerhin sein zwölfter, wenn man die Übersetzung des Bandes Vor der Erfindung des Paradieses mitzählt.

Man sagt, man sei ganz Ohr, wenn man voller Neugierde seinem Gegenüber zuhört und zur Bekräftigung vielleicht sogar noch beide Hände hinter die Ohrmuscheln legt, um wirklich alles zu hören. Ganz Ohr ist in Steinherrs Band zugleich eine Metapher für das Zuhören Gottes. Dein winziges / bebendes Heuschreckenohr / das alles zugleich hören muß – das Rauschen der (Ohr-) Muschel überlagert sich mit dem Lauschen des Ohres. Ganz Ohr heißt auch das vorletzte Kapitel und darin das erste Gedicht.

Gleich beim allerersten Text des Buches Geheime Welt aus dem gleichnamigen Kapitel wird man just in einen anderen Kosmos „enthoben“, um den eine eher kindliche Vorstellung kreist, wie sie auch z. B. in einigen Märchen H. C. Andersens immer wieder vorkommt. So kreist das ganze erste Kapitel um etliche geheime Welten, wo Dinge vor sich gehen, die im verborgenen Reich der Fantasie des Betrachters geschehen.

Geheime Welt

Schalt das Licht aus
und im Finstern beginnt die Mega-Party ­
Was sie nun treiben
Sessel Couchtisch Bilder Regale
kreuz und quer -
mystische Besäufnisse
metaphysische Orgien von denen du
keinen Schimmer hast -
Der entgeisterte Blick der Stehlampe
als hätte sie sich eben noch
durch Sonne Mond und Sterne geknutscht
mit einem Erzengel

Ganz so kindlich sind die Vorstellungen natürlich nicht, denn mystische Besäufnisse oder gar metaphysische Orgien klingen nicht wirklich jugendfrei. Wobei eine metaphysische Orgie ja nun wieder so vergeistigt sein könnte, dass man Jugendliche zulassen darf? Und wo man nur im Transzendenten ausschweift – was wäre schon dabei? Auf der Rückseite des Gedichtbandes lesen wir: Steinherrs Gedichte strahlen in einer knisternden Transzendentalerotik, die sich im Zusammenklang von Metaphysik und Profanität, von Göttlichkeit und geblendeter Abgöttlichkeit innerhalb des Gedichtes auflädt und am Ende häufig in einer Pointe entlädt. (Walter Fabian Schmid)

Zu einem Steinherr-Gedicht gehört nach jeder Strophe ein „typischer“ Bindestrich – heute auch „Minus“ genannt: tänzerische Virgel, die das Schriftbild durchwimmeln – übrigens (abgesehen von ein paar Ausrufezeichen, Fragezeichen und Doppelpunkten) das einzige Satzzeichen, mit dem sie auskommen und durch den der Zusammenhang zweier aufeinanderfolgenden Verse markiert wird. Der Bindestrich eröffnet somit den nächsten Vers. Punkte und Kommata gibt es keine. Auch hierdurch gelingt ein poetisches Sprechen, das sich vom Alltäglichen unterscheidet.

In den ersten beiden Kapiteln wird kenntnisreich angespielt auf Wissen: Anubis, Bacchus, Caravaggio, Abraham und Judith und last but not least der apokalyptische Reiter verteilen sich auf gerade mal zwei Gedichte. Steinherrs Dichtungen sind so gesehen anspielungsreich, belesen und nachgerade inspiriert von Kenntnissen aus der Antike. Der schlaflose[n] Logos, das ekstatisch[e] Zeta, der schiefeste[n] Orkus … ab und zu bleibt dabei ein gewisser Eindruck von Überfrachtung. Etliche Bilder entstammen dem Bereich des Sakralen. Eventuell fragt sich derjenige, dem all diese Anspielungen fremd sind, worin der Mehrwert liegt und ob er „das alles“ wissen muss? Denn sie setzen für Begriffe wie Spiritus asper sogar humanistische Bildung voraus. Wobei viele der Anspielungen lediglich eine zusätzliche Ebene anbieten, die man goutieren kann, wenn sie sich einem erschließt. Bei Steinherr gibt es nie ein Muss. Auch wenn in den ersten zwei Kapiteln die – wie man so sagt – Bildungsbeflissenheit etwas dicht ist, so ist sie insgesamt wohldosiert und bleibt im „grünen Bereich“. Einer der mitreißenden Texte der Sammlung ist

Ankunft, zu früh

Einen Augenblick!
sagt die babylonische Sklavin am Empfang
Ihr Zimmer ist gleich so weit!
Und in Windeseile wird das Liebeslaken
von Heloise und Abaelard ausgewechselt
Agamemnons Blut aus der Badewanne gespült –
Hans Castorps Zigarrenstummel verschwindet im Müll –
die Papiertaschentücher
voller Sputum der Kameliendame
und die zerknüllten Notenblätter von Verdi
landen im selben Plastiksack –
Eine Hand rückt den Lapis Niger
als Briefbeschwerer zurecht –
Auf dem Kopfkissen
mit dem Kaiser Tiberius erstickt worden ist
prangt ein Pralinenherz –
hübsch platziert
von dem zwinkernden Zimmermädchen
Kassandra

Jedes einzelne Bild wirft sein Zwielicht und die Spannung zieht an wie in einem Kürzestthriller. Für alle diejenigen, die glauben, sich wohler zu fühlen bei Texten, die in Gegenwelten und Pop-Referenzen „daheim“ sind und sich pro Vers gleich gegen dreierlei Missstände der Facebook-Gesellschaft auflehnen, sei gesagt, dass Steinherr alle Anspielungen auf westeuropäisches Wissen in ganz neuer Kombination „resampelt“ und durchmischt. Ganz ohne externe Referenz kommen wenige Texte aus. Gerade die ersten beiden Kapitel durchzieht somit ein etwas altmodischer Anhauch, der freilich gewollt ist und auch seinen speziellen Retro-Charme hat, noch verstärkt durch die alte Rechtschreibung. So werden traditionell erprobte Inhalte leicht und luftig präsentiert; es sind zumeist sehr filigran hingeworfene, um nicht zu sagen flüchtig aquarellierte Texte, die wenig Schnörkel notwendig haben. Dabei besticht die große Klarheit der Szenarien und Metaphern. Es werden neue und ungewöhnliche Bilder gefunden, oft auch schonungslos und mitunter schockierend: Heilige Agatha von Catania – / vergiß für einen Augenblick / deine abgeschnittenen Brüste / die du auf einer Servierplatte / wie zwei Kuchen vor dir herträgst. Trotz des verstörenden Bildes nimmt sich der Text förmlich selbst die Schwere aus den Worten. Dem gegenüber steht Steinherrs Geschick, aus kleinen Alltagsbeobachtungen, entsprechend dem romantischen Eichendorffschen Motto Schläft ein Lied in allen Dingen,  ein großes Spektrum an Bildern von großer Intensität zu erschaffen. Steinherrs Gedichte sind oft Sammlungen ganz feiner Dinge. Lied in allen Dingen heißt auch ein Gedicht in der Sammlung, in welchem sich selbst die bewußtlosen Steine regen. Seien es die ernsten blassen Göttinnen der Daguerrotypien – oder, sehr eindrücklich auch, das Bild eines Momentes, der „fällt“ wie ein Fieberthermometer: überall rollen / die silbernen Kügelchen // unmöglich / sie einzufangen // mit bloßen Händen // so gleißend / so vipernflink // rollen sie und / teilen sich unendlich // rollen in / Ritzen und Spalten // auf Nimmerwiedersehen. Hier ist alles ganz nah beieinander: Glück, Freude, Überraschung, Unglück, Trauer, Schönes und Schreckliches: schillernd entgleitet etwas emotional nicht Fassbares wie ein silbern gleißendes schlangenartig davonhuschendes Vexierbild, ein flüssiger Spiegel, zersprengt in tausenderlei Tropfen und Tröpfchen. Den davon rollenden Quecksilberkügelchen huscht die Emotion hinterher, spiegelt sich bunt in ihnen und ist so schnell wie sie kam auch schon dahin.

So funkelt in vielen Texten enorme Leichtigkeit, die zum Ende des Bandes hin immer weiter zunimmt. Im Text Spuren kommt die Spurensicherung, um Worte und Wörtliches sicherzustellen: Jeder Blick jede Geste / eben noch frei im Raum schwebend / wird eingesammelt etikettiert / Lippenstift auf Vokalen fixiert / Die Pinzette zieht Konsonantensplitter aus einer Serviette. Hier und da stehen blitzgescheite Einfälle auf dem Papier wie das Museum der schönen Ideen: ein gelungenes Bild mit einigem Erkenntnisgehalt und zudem einiger politischer Relevanz – überdies Titel eines Kapitels, das mit folgendem Text beginnt, der seine Inspiration quasi ex negativo bezieht:

Schaufenster mit alten Leicas
Ihr archaischen Höllenmaschinen
böse lauernd –
Bis euer einziges Krokodilsauge
zuschnappt
und den nächstbesten Moment verschlingt –
In die Unterwelt hinab schlingt ihr ihn
kopfüber in den schiefesten Orkus
in die verkehrte Welt
des Negativs –
Da sitzen wir zu Tisch
beim Totenmahl
schwarze Gesichter
gespenstisch grinsend
von weißem Haar umlodert
'unter schwarzem Aschehimmel –
Nur schwärzeste Kunst kann uns retten
okkulte Riten
bei rötlichem Schimmer –
daß wir schließlich doch
als fröhliche Gesellschaft
aus dem Entwicklerbad auftauchen –
triefend euphorisch
dem Hades entrissen

Eine überraschende Abwechslung, auch hinsichtlich der Form, bildet das letzte Kapitel Glückskekse und Knallbonbons. Nun wird es sehr luftig: hier gibt es Sätze, die wie Aphorismen wirken und genauso funktionieren – und dennoch manchmal adhoc keinen Sinn ergeben. Sätze, bei denen man sich nicht sicher ist, ob diese gedankenblitzartigen Aperçus einem Poesiegenerator entstammen oder nur sporadische Niederschriften sind, die – ähnlich Peter Handkes Ein Jahr aus der Nacht gesprochen – aus Geträumtem „extrahiert“ und fixiert wurden?

Hören Sie auf Ihren Regenschirm! Er versteht die Sprache der Schatten!

Oder sind es überkandidelte Splitter, exaltierte Fraktale, reich an poetischen Einfällen, die ganz einfach plötzlich da waren? Man rätselt und liest und rätselt und liest und ist dabei angetan vom eigentümlich heiteren Sound dieser leichten Sentenzen.

Überlassen Sie Metaphysik dem Salzstreuer!

Und dennoch haben sie zumeist einen wahren Kern, den man finden kann – oder auch nicht. Falls nicht:

Wechseln Sie bei nächster Gelegenheit die Galaxie!

*Ludwig Steinherr, geboren 1962 in München, studierte Philosophie und promovierte über Hegel und Quine. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, u. a. den Leonce-und-Lena-Förderpreis, den Evangelischen Buchpreis und den Hermann-Hesse-Förderpreis. Seit 2003 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Seine Gedichte wurden vielfach übersetzt. Zuletzt erschienen in der Lyrikedition 2000 Kometenjagd (2009) sowie in der englischen Edition Arc Publications der zweisprachige Auswahlband Before the Invention of Paradise (2010).

Ludwig Steinherr
Ganz Ohr
buch&media
2012 · 104 Seiten · 22,50 Euro
ISBN:
978-3-869063331

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