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Kritik

Durchscheinende Momentaufnahmen

Hamburg

Matthias Kehles Produktivität scheint keine Grenzen zu kennen. Er bloggt über Lyrik und übers Wandern, hat zuletzt mit seiner „Wanderbibel“ (München 2011) einen Publikumserfolg gelandet, legt sich im VS Baden-Württemberg ins Zeug, veröffentlicht in Zeitschriften und Anthologien und legt im Schnitt alle zwei Jahre einen neuen Gedichtband vor. In diesem Jahr sogar zwei, zählt man die deutsch-französische Sonderausgabe seines letzten Titels „Fundus“ (Marklkofen 2012, übersetzt von Rüdiger Fischer) mit, der ursprünglich 2009 erschien. Dieser Tage erscheint mit „Scherbenballett“ eine Sammlung durchscheinender lyrischer Momentaufnahmen, die eine Ruhe ausstrahlen wie man sie bei dem erwähnten Arbeitspensum nicht erwarten würde.

Die Themen, auf die der Leser darin stößt, sind so vielfältig wie Kehles Wirken: es geht um die Poesie selbst, um das Wetter (aber nie auf banale Weise), um Kindheitserinnerungen und das Erleben der Gegenwart, den Alltag und das Ausbrechen aus ihm, und, natürlich, ums Wandern. Das mag recht beschaulich klingen, ist es aber nicht. Kehles Gedichte schärfen den Blick aufs Detail, nehmen die Kleinigkeiten am Rande des Blickfelds wahr, ergreifen sie und rücken sie ins Zentrum. Es geht um Genauigkeit, um das Sehen, Fühlen, Erfühlen all dessen, was direkt unter der hauchdünnen Oberfläche schwebt. „Fundus“ ist daher vielleicht der Überbegriff, unter dem man alle seine Gedichte subsumieren könnte, auch jene im „Scherbenballett“. Wie er in einem Gedicht über Gedichte schreibt: „Ein Gedicht, / ein Moment ohne Unterschlupf“. Für Gedichte muss man sich hinausbegeben aus engelernten Haltungen, Perspektiven.

Kehle bedient sich einer einfachen, leicht zugänglichen Sprache. Man muss hier kein Hintergrundrauschen suchen, weil sich die Szenen sofort erschließen, sei es der Blick aus dem eigenen Fenster in vielfacher Variation; ein aufgeschnapptes Gespräch beim Spaziergang; Beobachtungen im Berufsverkehr oder in der Bahn; im Hotelzimmer; im Nachlass des Großvaters. Was sich entfaltet, ist ein Panorama des Kleinen, jedes Gedicht ein Mikrokosmos, der einen als Leser berührt, weil man viele der Szenen kennt. Man kann sie mit allen Sinnen wahrnehmen, sie mit Glück sogar live erleben, wenn man den Blick vom Buch hebt und zum Fenster wendet:

Großbildschirm

dem Nachbarn gegenüber
in die Ferne sehen ein halbes
Bild geteilt durch vier

lautstark Dieselduft
von unten eine Katze regiert am
Balkongeländer bevor ein Tor fällt

die Faust reckt sich ins Fensterkreuz
ein Mund steht untertitelt offen

Man kann sich darin wiederfinden ohne sich zu verirren, kann die Szenen mit dem eigenen Erleben abgleichen oder tut es automatisch. Das liegt vor allem an der leisen Sprache, die Kehle verwendet, sanft und unaufdringlich auch seine Metaphern und Bilder: „wohin ich greife kein Zeichen / abwegig wohin ich sehe / habe ich mich verlesen.“ Und augenzwinkernd liefert er das Rezept, das dahintersteckt, gleich mit: „Geh raus zum Dichten / suche etwas Altes / zum Beispiel: Ogiven.“ Wobei, wie eben erwähnt, der Dichter muss nichtmal zwingend nach draußen (er sollte, aber er muss nicht) – die Themen liegen vor ihm ausgebreitet, sind immer da und überall. Er muss sie nur sehen können.

Matthias Kehle
Scherbenballett
Klöpfer & Meyer
2012 · 128 Seiten · 16,00 Euro
ISBN:
978-3-863510480

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