Von Akkord bis Zusammenhang
Über Alfred Brendel als Pianist mit Weltkarriere braucht hier nichts gesagt zu werden. Jetzt hat der alte Großmeister (ein Wort, dessen Gebrauch er im Vorwort ausdrücklich rechtfertigt) eine kleine Textsammlung mit dem Titel A bis Z eines Pianisten vorgelegt, die mit ihrer Gliederung den Anschein eines Kompendiums erweckt, aber doch eher eine Plauderei aus dem Nähkästchen ist. Nun, dieses Nähkästchen hat es in sich, dahinter stecken langjährige Erfahrung und gründliches Nachdenken. Es ist nicht so, dass der Autor, seit er nicht mehr konzertiert, sich nun eben aufs Schreiben verlegt hätte. Schon früh hat er sein Metier auch in Aufsätzen und Reden durchdrungen, wovon mehrere Titel zeugen, z.B. Musik beim Wort genommen (Piper 1992) oder Über Musik. Sämtliche Essays und Reden (Piper 2005). Einige sind hinten im Buch aufgeführt, und Brendel scheut sich nicht, im Vorwort deutlich auf sie hinzuweisen. Wir werden also schon darauf eingestimmt, dass das A bis Z eines Pianisten für Wissbegierige nicht erschöpfend sein wird.
Da sind wir gleich bei der Frage, für welchen Leserkreis das Buch gedacht ist. Der Untertitel Ein Lesebuch für Klavierliebende lässt offen, ob es sich an Konzertbesucher, CD-Hörer, durchschnittliche Klavierspieler oder Pianisten-Kollegen wendet. Für jeden etwas?
Schauen wir uns die Stichwörter an, so finden wir eine bunte Mischung aus musikalischen Fachtermini (Akkord, Crescendo, Legato, Ritardando, Synkope), klaviertechnischen Ausdrücken (Anschlag, Oktaven, Pedal, Verschiebung), allgemein musikalischen Themen (Balance, Bearbeitungen, Dirigent, Interpretation, Komponist, Texttreue, Variation, Virtuosität) sowie allgemeinen Begriffen (Einfachheit, Gefühl, Humor, Liebe, Rührung, Stille, Vielfalt). Darüber hinaus erhalten die Komponisten Bach, Beethoven, Brahms, Chopin, Liszt, Mozart, Scarlatti, Schubert und Schumann je ein eigenes Stichwort.
Nun sieht es hier nicht etwa aus wie in Artikeln eines Musiklexikons. In eigenwilligem Wechsel springt Brendel mitten in den Zusammenhang von Anekdotischem aus der eigenen Konzerterfahrung, gewissenhaften Kurz-Erörterungen musikalischer Spezialfragen (z.B. die Angleichung punktierter Rhythmen an Triolen in historischer Praxis oder der Unterschied zwischen Ritardando und Ritenuto), kleinen Zitaten aus seiner weitgespannten Lektüre (von Platon über Lichtenberg und Jean Paul bis Musil) und Ratschlägen an werdende Pianisten. Nur letztere werden mit manchen der erwähnten Werke auf Anhieb etwas verbinden und auch die pianistischen Feinheiten nachvollziehen können. Er macht keinen Hehl aus seinen Sympathien und Antipathien in Konzertbetrieb und Aufführungspraxis, das ist sein Recht als Grandseigneur des Musiklebens. Man kann ihn sich als lebhaften und dominanten Gesprächspartner in einer Runde von nicht allzu jungen Fachkollegen vorstellen, die seine Kenntnis und Würdigung älterer Meister wie Edwin Fischer, Artur Schnabel, Furtwängler oder Fischer-Dieskau verstehen und teilen.
Nicht ganz zu seinem locker mäandernden Stil passt es, wenn er zu Beginn der Komponisten-Stichworte die genannten Größen in einer Art Kurz-Definition vorstellen zu müssen glaubt: Beethoven: Großmeister der Kammermusik, Sonate, Variation und Symphonie. Mozart: Großmeister der Oper, des Klavierkonzerts, der Konzertarie und des Streichquintetts. Schubert: Schöpfer einer allumfassenden Welt des Klavierliedes mit grandiosen Beiträgen in Kammermusik und Symphonie. Großmeister der vierhändigen Klaviermusik. Das ist uns als Lesern nun doch nicht so neu.
Wenn das Buch also kein Nachschlagewerk ist, sondern eher locker servierte Appetithappen mit gelegentlichen kauzigen Schlenkern bietet (was verbirgt sich hinter „Ungerupft“, was ist „Yuck!“?), so vermittelt es doch insgesamt die beispielhafte Haltung eines Künstlers gegenüber seiner Kunst. Für ihn zählt keine Vereinnahmung des Publikums durch bloßes Virtuosentum, sondern nur der gewissenhafte Dienst an der Musik, die niemals endende Beschäftigung mit ihren Möglichkeiten und immer der Blick aufs Ganze der Interpretation. Das allein ist schon des Beifalls wert.
Und dann gibt es noch die zweite Seite des Alfred Brendel. Sie blitzt hier nur an einigen Stellen hervor, wenn er mitten zwischen preisenden Groß-Worten und Fachgesprächen zum plötzlichen Sturzflug ins innere Wesen der Musik ansetzt: Was ist Harmonik? Die dritte Dimension, der Körper, der Raum, das Nervengeflecht, die Spannung in der tonalen Ordnung. Über die Sonate op. 110 von Beethoven heißt es, sie bewerkstellige ihren Schluss durch das Abwerfen musikalischer Fesseln in euphorischer Selbstverbrennung. Das ist glänzend formuliert. Eine räumliche Musikvorstellung bietet er uns an, wenn er von lyrischen Episoden eines Stücks sagt, sie eröffneten phänomenale Ausblicke in eine andere Sphäre, oder wenn er die Überzeugung ausspricht: Ein deutliches Bewußtsein dynamischer Terrassen und dynamischer Vorgänge gehört zu den Vorstellungen, die die Musik gleichsam ins Geographische übertragen. Ein Stück läßt sich wie eine Landschaft mit Bergen und Tälern, Burgen und Schluchten überblicken.
Solches Spiel mit Bildern stammt offenbar von seiner zweiten Schiene. Denn Alfred Brendel ist auch Lyriker. Mehrere Bände mit Gedichten hat er veröffentlicht, darunter Fingerzeig (Hanser 1996), Ein Finger zuviel (Piper 2000), Spiegelbild und schwarzer Spuk (Hanser 2003). In ihnen lebt er seinen Hang zum Skurrilen und Grotesken aus, den er schon als Kind an sich bemerkt zu haben glaubt (nicht zufällig ist sein Essay über den Humor in der Musik berühmt geworden). Allein fünfmal wurden Gedichte von ihm ins Jahrbuch der Lyrik aufgenommen. Daher eine kleine Probe außer der Reihe (aus dem Band von 2003, C.H.Beck):
ZWISCHEN DEN KLAVIERTASTEN lauern sie
dünn und durchsichtig wie die Gläser Stoskopffs
bereit
den nächsten Pianistenfinger
rasiermesserscharf zu ritzen
Flatternd wie ein blind gewordner Vogel
verfehlt er den ihm zugedachten Ton
worauf das musikalische Luftgebäude
mit seinen Rouladen und Rocaillen
wie ein Kartenhaus zusammenstürzt
Seht den großen
altersblöden Haydn
im Jenseits
seine leeren Augenhöhlen
zum Himmel aufschlagen
Das A bis Z eines Pianisten ist eine nette Lektüre, besonders für Verehrer des Meisters. Man amüsiert sich hier und da, lässt sich belehren, zuckt auch mal die Achseln; ob man es ein zweites Mal lesen wird, ist die Frage. Mit den Vignetten von Gottfried Wiegand, die auf witzig-verspielte Weise das Motiv von zwei Händen auf Klaviertasten variieren und mit den braun gefärbten Zwischenblättern, die jeden Buchstaben ankündigen, ist es ein bibliophil aufgemachter schmaler Band.
Auf der Rückseite von Brendels früher Publikation Nachdenken über Musik von 1977 liest man die augenzwinkernde Bemerkung eines FAZ-Kritikers: Brendel ist ein hervorragender Pianist. Was für ein phänomenaler Musikkritiker wäre er geworden, hätte er seine Zeit nicht mit Klavierspielen verbracht.
Schon damals also war er als ein Mann von mehrfachen Fähigkeiten ausgewiesen, und so mag er sich heute einmal zu seiner reichen und immer noch anhaltenden Lebensleistung ein entspanntes, heiteres Buch gönnen.
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