Hätten die Nüchternen einmal gekostet
Ich lese: Flucht des Vaters nach Westberlin, Suizid der Mutter, danach Kinderheim. Ich lese: Exmatrikulation, Suizidversuch und zwei Jahre Haft „wegen staatsgefährdender Hetze“. Ich lese: Zwei Gedichtbände, 1975 und 1979, dann Veröffentlichungsverbot bis zur Wende. Die Versuchung ist groß, Andreas Reimanns wieder aufgelegtes Debut „Die Weisheit des Fleischs“ in einen politischen Kontext zu stellen, doch es scheint mir anregender und aufregender zu sein, die Gedichte daraus zu lösen und unvoreingenommen auf ihre Wirkung mehr als dreißig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen zu prüfen.
Mit jedem gelesenen Gedicht, jeder umgeschlagenen Seite nimmt das sprachlose Staunen angesichts der stupenden Qualität zu. Ungeheuerliches begegnet einem: Ein hoher, an klassischen Autoren wie Hölderlin geschulter Ton, verbunden mit leichter Eleganz, Verdichtung, Alltagstauglichkeit und großem, mitunter jedoch spöttischem Ernst. Und man möchte behaupten: Seit Novalis hat selten ein Autor mit mehr Emphase die ganz buchstäbliche Nahrung von Leib und Blut mehr gepriesen als Andreas Reimann. Schon das erste Gedicht der Sammlung, „Rede an eine reichliche mahlzeit“, verkündet mit ironisch leicht durchbrochener religiöser Inbrunst: „Das fleisch war am anfang, o rosenes, mild marmoriertes! / Am anfange war es, und fließt durch die adern, das steak, / im pfeffer gedunkelt, erwartet den esser ...“ Und weil das Fleisch selbst wieder zu Fleisch wird, sollten die „söldner“ ihr Kriegsgerät gegen Kochgerät eintauschen, denn: „die köche verbessern die erde“. Ein Satz, der dem Genießer mundet und dem Nüchternen im Hals stecken bleibt.
Auch und vor allem die Liebe ist nicht weniger geistig als sinnlich. Noch dort, wo sie scheitert, ein Stachel im Fleisch und in den Erinnerungen, verlieren die Gedichte ihre Souveränität nicht, verwandeln sich in Klagelieder von erhabenem Format. Das charakterisiert Reimanns Gedichte vielleicht am besten: daß sie von der Schwierigkeit künden, dem Leben mit „gegengeräuschen“ zu begegnen, die es lebenswert machen: „Lust des beginnens! Last des beginnens!“ Trotz des hohen Tons (der nicht mit hohlem Pathos zu verwechseln ist!) gelingen Reimann genaue seismologische Bestimmungen gesellschaftlicher Verwerfungen und exakte Beobachtungen des Alltags. Hochkonzentriert dringt die poetische Stimme mitten hinein, denn „es gibt keine vorstadt der fleische und samen, / alles ist zentrum, und aus der verbannung des jahres / stürzen vollkommne genüsse der brauchbaren zeiten“.
Sinnlichkeit in allen Bereichen verhindert, daß die Gedichte monoton oder monothematisch werden, sie reichen von flirrenden „Figurationen der farbe rot“ bis zu den „Fragmenten vom widersprüchlichen glück“, worin es heißt: „Ein gallstein ist die erde den verlassenen. / So geht sie um: ein schmerzliches gewächs.“ Natürlich ist manches den Zeitläuften geschuldet, ein pazifistischer Impetus zuweilen, doch niemals so aufdringlich, daß es plumpe Gegenwartskritik wäre. Dennoch sticht der eine oder andere Hieb vielleicht noch heute: „Etliche, also zuviele der heimischen dichter, / etliches, also zuvieles sahen sie nicht.“ Das kann man konkret auf DDR-Verhältnisse münzen, muß es aber längst nicht: „Etliche, also zuviele der heimischen dichter, / fallen in klage um ach das zerbrochene gras, / harrn des applauses, der ausbleibt, sie schauen sich an / tränenden auges, dann trösten sie wieder einander, / wedeln sich zu mit den versen und: loben sich sehr.“ So spricht einer, der neben sich steht und von außen auf die Dinge sieht, ein Außen-Seiter; aber einer, der von dort die Freuden umso besser zu schätzen weiß.
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