Essay

Der Aspektraum der Arroganz

Hamburg

Manchmal reichen fünf Minuten, während derer man sich den Meldungen des Tages aussetzt, um als Mensch in ein Loch wegzusacken und sich zutiefst unwohl zu fühlen. Nicht als persönlicher Mensch, sondern als Teil einer Gattung, die bei allem was sie tut, scheinbar nur eines im Sinn hat – den eigenen Vorteil. Ein gut entwickeltes Gehirn ist dabei eine Trumpfkarte der Evolution, die den Spieler siegessicher macht. Und stolz. Als hätte er sich selbst erfunden. Der Mensch strotzt vor Arroganz, „hochmuth ists, wodurch die engel fielen“, wußte Schiller. Das ist durchaus eine Art Krankheit. Aus der Notwendigkeit, sich der Welt anzumessen, hat der Mensch die Anmaßung gemacht – den Versuch, die Welt sich anzumessen. Und leidet dabei unter inhärenten Verzerrungen, die implizit auch in den unumstößlichen Grundlagen unserer Wissenschaften enthalten sind.

Ein Beispiel dafür ist die Art, wie wir Zeit denken –nämlich kognitiv voreingenommen. Was im Außen passiert, gestaltet das Vergehen der Zeit in unserm Innern als Geschichte. Erleben wir viel (das heißt nicht: schnell), erhöht sich die Dauer, trotten wir, verkürzt sich das Leben. So individuell die Zeit auch läuft, wir erfahren kausal und spielen diesen Ball bis zu Gott. „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“, lassen wir die Offenbarung der Bibel sagen. Wir legen die Zeit in die Hände eines von uns erdachten Archetypus. Indem wir Anfang und Ende denken, knüpfen wir ein Seil von Punkt zu Punkt, auf dem Geschehen entlang hangeln kann. Das ist ein Konzept, das wir in die Welt hineindenken, weil es uns immer geholfen hat und evolutiv von Vorteil ist. Chaos strukturiert sich. Es hilft uns auszurechnen, was in der Welt passiert.

In der Wirklichkeit, und zwar in jener, die wir nicht denken (obwohl das Denken auch zur Wirklichkeit gehört und Wirklichkeit erzeugt), gibt es weder eine Vergangenheit, noch eine Zukunft. Diese gibt es ausschließlich als Hilfsstrukturen in unseren Köpfen und wir neigen dazu, mit ihnen ein unbeschreibliches Theater zu machen. Zum Beispiel indem wir Zeitreisen phantasieren und millionenfach Science Fiction darum spinnen. Es gehört nur ein wenig geistige Abkehr vom eigenen Wunschdenken dazu, um zu erkennen, daß Zeitreisen mit der realen Welt niemals vereinbar sein können. Sie setzen voraus, daß alles Existierende auf der Welt in jeder Nanosekunde ein komplettes Duplikat seiner selbst ablegen müßte, fest an einem genau definierten Ort (in einem Kosmos, der unaufhörlich durcheinanderdreht und wirbelt und wo es keine definierbaren Orte gibt), zu einer genau definierten Zeit (die in unterschiedlich bewegten Systemen unterschiedlich läuft), um dort als Vergangenheit jemals wieder auffindbar zu sein. Und umgekehrt, die Welt müßte für jede kommende Nanosekunde bereits als physikalische Matrix vorliegen, die durchlebt wird, als würde das Jetzt nur jeweils das bereits in der Zukunft Vorhandene abfragen. Das Leben wäre nichts weiter als ein Zeiger, der durch eine Wand aus bereits fertigem Geschehen liefe, dabei alles Physikalische durchstreicht und sofort hinter sich zurückläßt. Das Leben wäre der geistige Moment, der Rest ein unverrückbares Massiv namens Kosmos durch den es hindurchläuft.

Was für ein Unsinn. Es zeigt die Menge an Festigkeit und Statik, die wir ersehnen und die wir uns selbst erzeugen. Eine Backsteintaktik. Wir sind geschichtliche Wesen, die in sich aufstapeln, was ihnen begegnet. Das ist eine Grundvoraussetzung mit der enormen Informationsmenge, die uns im Hier und Jetzt begegnet, vorteilhaft fertig zu werden. Da wir memorieren, können wir vergleichen und souverän agieren. Wir lesen aus der Welt Geschichten, die wir in unseren Kontext integrieren. Nichts in der Welt bleibt spurenlos und wir haben unsere inneren Mikroskope bis zu großen Teilchenbeschleunigern erweitert, in denen wir nach Spuren suchen.

Die Welt und das Leben sind ausschließlich gegenwärtig und nur die Implikationen, die gegenwärtig sind, können sich entwickeln. Daß sich Vergangenheit auf vielerlei Art und Weise aufhebt im Erinnerten, in Struktur und Textur, in  den gültigen Mustern des Gegenwärtigen, daß sich Information einflechten und aufstapeln läßt, zwingt uns dazu, mit ihr zu rechnen. Vergangenheit ist ein Teil der Gegenwart und wir müssen also mit ihr rechnen, sobald wir gegenwärtig sind. Aber auch die Zukunft ist Teil der Gegenwart, in dem Sinne, daß ganz sicher ist, daß etwas geschehen wird, das aus den Konstellationen und dem Storypaket des Gegenwärtigen entwickelbar ist und es führt kein Weg daran vorbei, mit ihr zu rechnen, eine Entscheidungen zu suchen und zu treffen.

Die Vergangenheit ist eingeflochten in die Struktur der Gegenwart, in den physikalischen Fakt, der im Jetzt aufschwimmt. Die Zukunft ist in jedem Augenblick ein Bestandteil der Gegenwart, weil die Welt neben faktisch auch ein zweites ist, nämlich möglich. Das Implizite übersteigt das Faktische bei weitem. Die Möglichkeiten der Welt sich zu entwickeln sind deshalb so ungeheuer und astronomisch, weil selbst kleinste Abweichungen zu Ursachen dramatischer Entwicklungen werden können. Und das in Etagen hinein und über Etagen hinweg. Eine kleine Schraube, die sich im Keller löst, kann das ganze Gebäude zum Einsturz bringen. Alles wirkt auf unglaublich komplexe Weise miteinander zusammen, ist miteinander abgestimmt, die real existierenden Weltmuster sind Resultate gemeinsamer vergangener Gegenwart und jede Änderung an einer Stelle hat unausweichlich Folgen für das Gesamte, nur selten in dramatischen Ausmaßen und kolossalen Tragödien und deshalb für uns oft nicht erkennbar.

Jeder, der das Leben beobachtet, weiß, wie kleinste Entscheidungen, wenn man auf sie in der Rückschau blickt, das Schicksal eines Menschen bestimmen. Da sind angeflogene Launen beteiligt, Wackeln zwischen zwei Ideen, das nicht länger währt als ein Blinzeln. Das wenigste in der Welt ist sensationell, aber das eine bewirkt das andere und selbst die Unterlassung von etwas, verändert den Möglichkeitsraum der Welt für immer. Insofern kommt es drauf an, was jeder Einzelne tut oder nicht tut.

Am 9. Juli 2000 erneuert ein Mechaniker in Houston, Texas an einer Klappe am Hecktriebwerk einer DC-10 der Continental Airlines einen Metallstreifen, der zuvor bereits im Juni in Tel Aviv ausgetauscht worden war. Irgendetwas passt nicht. Der Mechaniker beschließt einen Streifen zu benutzen, der nicht ganz den Vorgaben des Herstellers entspricht, aber dennoch sitzt. Ungefähr zwei Wochen später, am 25. Juli 2000 startet die DC-10 vom Flughafen Paris-Charles de Gaulle und noch bevor sie abhebt, löst sich die Titan-Lamelle und fällt auf das Rollfeld nieder.
Kurz darauf startet der Air-France-Flug 4590, eine Concorde auf dem Weg nach New York, überrollt mit dem rechten Reifen die herumliegende Lamelle, durch die hohe Geschwindigkeit platzt der Reifen, Gummifetzen wirbeln hoch, schlagen an, lösen im Tank der linken Tragfläche eine Schockwelle aus, sodaß Treibstoff austritt. Reifenteile werden auch gegen die Fahrwehrselektrik geschleudert, beschädigen sie und verhindern so das Einfahren nach erfolgtem Start. Man versucht es vom Cockpit aus mehrfach, es bilden sich Funken in der beschädigten Elektrik, die den austretenden Treibstoff entzünden. Die zwei linken Triebwerke verlieren an Schub, aber man hebt ab, weil die Geschwindigkeit kein Abbremsen auf der Startbahn mehr zuläßt. Das Feuer läßt die zwei Triebwerke nun ganz ausfallen, der betroffene Tragflügel beginnt in der Hitze zu schmelzen, die Concorde dreht aufgrund des Schubverlustes um ca. 100° zur Seite und stürzt eine Minute nach dem Start auf das Nebengebäude eines Hotels und brennt völlig aus.

Ein sehr dramatisches Ereignis, das eine beiläufige Ursache hatte – der Mechaniker hat dem sicher keinerlei Bedeutung zugemessen. Was passt und verschraubt ist, passt und ist verschraubt.  
Die Welt funktioniert nicht nur in ihren dramatischen Entwicklungen, sondern immer und überall genau so: kleinste Ursachen können extreme Folgen haben. In den allermeisten Fällen strengen wir keine so detaillierten Untersuchungen an, um den casus malus zu ergründen. Was genau uns in welchem Moment dazu verführt hat, nach links zu blicken, wo die Sonne durch einen blühenden Kirschbaum blinzelt, während von rechts ein Moped herantuckert. Und streng genommen ist die Ursachenanalyse nie wirklich komplett. Vielleicht für menschliche Begriffe wie Schuld und Sühne. Weshalb hat der Mechaniker so entschieden?

Wer will das wissen und je nachvollziehen – vielleicht war er verärgert über einen defekten Toaster, der kein Frühstück abwirft und die Laune verdirbt, ihn so miesmutig macht, daß er die Sicherheitsbestimmungen nicht 1:1 einhält, er muß sich beeilen damit er rechtzeitig in die Kantine kommt. Er denkt daran, daß er seine Frau zu genau diesem Toaster überredet hat, obwohl sie ein verchromtes Gerät mit mehr Schnickschnack, dafür auch zum dreifachen Preis bevorzugt hätte – und ärgert sich nun maßlos über sich selbst. Vielleicht hat aber einfach nur seine Lieblings-Baseball-Mannschaft verloren. Das ist vielleicht nicht zwingend, aber dennoch ursächlich.
Und auch hier reißt die Ursachenkette eigentlich nicht ab. Sie reißt niemals und nirgends ab. Vielleicht gibt es ein Kindheitserlebnis, ein Flughafenbesuch, der in dem Mann erst den Wunsch Flugzeugmechaniker zu werden entstehen ließ. Ohne diesen begeisternden Moment hätte er seinen Beruf nicht gewählt. Man kann das weiterspielen: Sein Daddy hat vielleicht nur deshalb mit dem Jungen den Flughafen besucht, weil dieser auch mit seinem Vater etwas ähnlich Aufregendes erlebt hatte und er seinem Kind etwas mitgeben wollte, was ihm selber zuteil geworden war: die Faszination der Technik. Also macht er mit seinem Jungen bei schönem Wetter einen Ausflug zum Airport, während die Mutter zuhause ihre Migräne pflegt.

Alles das ist irgendwie in der Titanlamelle auf dem Rollfeld des französischen Flughafens eingewoben. Nicht sichtbar, nicht physikalisch, aber in der Faktizität, daß dieses Metallteil jetzt dort liegt und eine Concorde geradewegs darauf zufährt. Ein Hauch andere Luft in der Vergangenheit hätte genügt, das Unglück nicht geschehen zu lassen. Angenommen an dem Tag, an dem der Daddy des Mechanikers seinen Sohnemann zum Ausflug auf den Flughafen einlädt, hätte die Ehefrau zufällig keine Migräne gehabt und ein alternatives Ausflugsziel durchgesetzt. Der Junge wäre vielleicht nie Flugzeugmechaniker geworden. Ein Hauch in der gerade verflossenen Gegenwart hätte gleichsam genügt:  wenn sich zwei Sekunden später die Lamelle von der DC-10 löst und ein Windhauch sie um Zentimeter wegträgt, während sie zu Boden flattert, wir hätten nie mehr etwas von ihr gehört.

Die Welt funktioniert als Moment und trotzdem als Geschichte. Jeder Moment bringt etwas zu Ende. Und behauptet gleichzeitig etwas Neues. Er muss stattfinden, weil die Dinge stattfinden. Ein Moment ist ein Gebirge aus Zeit, die überall anders geschieht. Im Kleinsten ist sie schnell und nach dem Großen hin verlangsamt sie sich. Die Welt ist in tausend Dimensionen organisiert und wie sie in der einen geschieht, ist das Schwungrad der nächsten. Struktur ist eine Folge von Eigenschaft, Komplexität ist eine Folge von Lesbarkeit und Sprache. So hat alles seine eigene Art, die Welt zu lesen und bewirkt damit eine Welt, die so ist, wie sie gelesen wurde. Wir Menschen bewirken eine Welt, die unverkennbar die Spuren davon trägt, wie wir sie lesen. Wir zerkratzen den Planeten und betonieren ihn, wir verändern das Klima und jagen seltsamen Träumen hinterher. Wir haben mit unseren Wahrheiten die Welt für immer verändert.

Und dabei bestimmte Aspekte der Welt angesehen und uns dafür entschieden, andere nicht zu betrachten. Was wir für uns als wahr festhalten, ist der Glaube, Aspekte, die in der Welt sind, ausreichend richtig gedeutet zu haben, sofern sie unsere Fragen beantworten. Dabei sitzen wir um ein Weltending, und denken, so wie wir es von unserer Seite aus erkennen, sei es tatsächlich beschaffen. Die Rückseite kennen wir nicht. Alle Wahrheiten sind ausschließlich Gültigkeiten eines speziellen Lebenskontextes, der sich aspektbezogen erarbeitet - die Wahrheit, die sich auf alle Ebenen bezieht, in denen sich Dasein organisiert, gibt es nicht. Nur kontextbezogene Konzepte. Wie das menschliche. Und unsere Welt (= unser Kontext) ist mittlerweile nicht mehr die natürliche, sondern eine technisierte und selbstgeformte. Die Aspekträume, die sie uns anbietet, enthalten in einem gewissen Sinn nur uns und wieder uns und immer wieder uns, mit allem, was wir in die Welt vor uns hinstellen. Wir formen und die Form prägt auf uns zurück. Immerwährende Rückkopplung. So sind wir irgendwann nicht mehr tauglich für die Welt, sondern nur noch für das, was wir von uns aus in die Welt stellen. Die Aspekte, die unser Leben ausmachen, spiegeln sich in allem, was wir tun. Wir wollen Strom, also bauen wir etwas, das Strom erzeugt. Jemand kommt auf die Idee eine Millionen Euro täglich damit zu verdienen, also baut er ein Atomkraftwerk und legt ein strahlendes Ei in die Landschaft. Wir nutzen einen Aspektraum, den die Radioaktivität uns bietet, und kreiieren einen Aspektraum, der im worst case auf Jahrzehntausende unbewohnbar ist. Wir sind nämlich kluge Supermänner, die alles im Griff haben. Die Wissenschaft hat alles hinterfragt und uns gekrönt. Sie hat ein paar reguläre Fälle angeschaut und ihre Lehren daraus gezogen. Und jetzt beherrschen wir die ganze Welt.

Unser Weltbild ist ungesund. Für Jahrhunderte haben wir versucht durch Reduktion die Vorgänge in der Welt zu erfassen, haben alles ins Einfache und Regelmäßige geholt, ein Haus der Logik gebaut, dort unter Laborbedingungen Erklärungen evoziert und uns für unsere Genialität gegenseitig die Hände geschüttelt. Jetzt stehen wir vor komplexen Problemen und haben keine Ahnung, wie man sie löst. „Es wird schon gut gehen“, heißt es. „Wir werden schon eine Lösung finden.“
Das kann sogar stimmen. Wenn wir lernen komplex genug zu denken und Möglichkeitswelten nicht ausschließlich nach Aspekträumen abzusuchen, die nur uns zu pass kommen. Wir müssen weg vom Erkennen, das uns enthält, zu einem Erkennen, das ohne uns auskommt.

Erkenntnisse, die durch Reduktion gewonnen werden, können beim Erstellen eines Konzeptes hilfreich sein, das einen  bestimmten Wirkbereich abdeckt, aber sie werden in den seltensten Fällen Gültigkeit für das Gesamte haben, denn dort existieren mannigfaltig emergente Phänomene, die aus den stufenweise auftauchenden Aspekt- und Möglichkeitsräumen entstehen, in denen sinnverändernde Kontexte herrschen (können), Phasenübergänge, Bifurkationsstellen. Man weiß mittlerweile einiges darüber.  Zwei Jahrhunderte hat die Physik gedacht, alles erklären zu können, wenn die Ausgangssituation ausreichend bekannt ist – eine lineare Operation. Den Gedanken, daß etwas, das eine neue Qualität hat, urplötzlich entstehen könnte, wollte niemand assimilieren.  Dabei ist es genau das, was sekündlich überall geschieht. Überall wo Dinge zusammen kommen und Räume entwerfen, zeitliche und geometrisch beschreibbare, entstehen auch Möglichkeitsräume mit Zugängen und Ausgängen, die nicht in reduktionistischen Beschreibungen enthalten sind. Und genau hier kann sich verwirklichen, was von einer reduzierten Anschauung her unerwartbar ist. Der amerikanische Physiker Philip W. Anderson hat das in Abwandlung des bekannten Satzes von Aristoteles so ausgedrückt: „Das Ganze ist nicht nur mehr, sondern etwas ganz anderes als die Summe seiner Teile.“

Ein kleines Beispiel: In einer reduktionistischen Sicht besteht eine Gitarre aus einer ungeheuren großen und komplex angeordneten Menge von Atomen. Sie bilden unterschiedlichste chemische Elemente, vom Holz über den Nylonstrang bis hin zur gewickelten Metallsaite, die wiederum Einzelteile bilden, die wiederum alle zusammen in einer sehr speziellen und faszinierenden Architektur zueinander angeordnet und miteinander verbunden sind. Auf der Grundebene besteht die Gitarre unbestreitbar aus einer konkreten Anzahl von Atomen, die alle zunächst in ihrem eigenen spezifischen Kontexten vertreten und danach miteinander in Verbindung gebracht sind. Theoretisch ist es möglich einen atomaren Bauplan dazu zu zeichnen.

So würde vorgehen, wer reduktionistisch eine fertige Gitarre anschaut und eine Idee davon erhalten will, woraus sie besteht und wofür sie gut ist.

Eine Gitarre ist jedoch völlig anders entstanden, als sie der Reduktionist in der Rückschau zerlegt. Niemand würde auf die Idee kommen, einzelne Atome zu veranlassen gezielt gewisse Elemente zu bilden, diese in ausreichender Menge  und vorgegebener Form sich anreichern zu lassen, quasi Stück für Stück, Einzelteil für Einzelteil nacheinander aus Elementarteilchen entstehen zu lassen, Wirbel, Stege, Schräubchen, Leim, verschiedenste Hölzer mit verschiedenen Eigenschaften, Bügel etc. jeweils nach einem atomaren Bauplan herzustellen, diese miteinander zum Instrument zu verbinden, und zwar jedes Mal, wenn er einen Ton spielen möchte. Das entspräche der reduktionistischen Sicht: die Gitarre ist eine Ansammlung von Atomen und wird nach einem speziellen Bauplan hergestellt.

Die lebendige Sicht heißt: Die Gitarre ist eine Kombination aus verschiedenen Materialien mit jeweils eigenen Möglichkeitswelten und Dimensionen, die gleichzeitig in einer bestimmten Lebenssphäre verfügbar sind. Wobei die Materialien aus ganz unterschiedlichen Lebensräumen stammen, die alle nicht existent wurden, um dereinst etwas zu einer Gitarre beizutragen, weder als Stück Holz, als Darm einer Saite, als Metallsteg im Hals. Die Gitarre war sozusagen niemals im Erz beabsichtigt und auch nicht im Baum. Erz und Baum entwerfen erst dem Menschen gewaltige Möglichkeitsräume vom Speer bis zur Tür, vom Möbel bis zur Gitarre, und sie entwerfen diese Räume ausschließlich in der Sphäre des Menschen, für das Tier, das sich auf den Baum flüchtet, hat er eine ganz andere „Bedeutung“. Die Gitarre ist die Verwirklichung eines Möglichkeitsraumes des Menschen.
Das Sprachspiel, das dazu führt, dass sie entsteht, kombiniert atomare, chemische, physikalische, mineralische, pflanzliche, tierische und menschliche Sprache und zwar nicht nacheinander, sondern als gemeinsames Hier und Jetzt. Das ist kein babylonisches Sprachgewirr, sondern ein fein abgestimmtes Konzert. In der Gitarre finden wir Eigenschaften des Holz, Eigenschaften des Metalls, sogar Eigenschaften des Menschen kombiniert, die schließlich eine wunderbare, weit über jede reduktionistische Analyse hinausgehende musikalische Sprache möglich machen, die wiederum Welt und Menschen verändert.

Eine Gitarre auf dem Dachboden allerdings hält schon wieder völlig neue Möglichkeitsräume bereit, die nicht in der menschlichen Absicht lagen – dort ist sie ein wunderbares Versteck und trockener Platz für das Nest eines Mäuschens. Eine Chance dort im Winter zu überleben. Für eine Maus hat die Gitarre und ihr Schallloch völlig andere Entwicklungsräume, als für den Menschen.  Für manchen ist eine Gitarre  womöglich mehr eine Geldanlage, als ein Instrument, vor allem wenn Jimi Hendrix einmal auf ihr gespielt hat.

Das gleiche Ding, die gleiche Ansammlung von Atomen, hat – je nachdem, mit wem oder was sie auf der Welt, zufällig oder nicht, den Raum teilt - Dimensionen in sich, die zu völlig neuen Weltkonstellationen führen. Und dabei verheiraten sich die Möglichkeitsräume – jene der Maus, die auf dem Dachboden herumstreicht und nach einem geschützten Plätzchen sucht, und jene der Gitarre, die einen Resonanzkörper hat, um Jazz erklingen zu lassen. Dieser Hohlkörper ist plötzlich eine Dimension des Möglichkeitsraumes der Maus. Öffnet sich die Luke und der Opa kommt herauf, um für seinen Enkel, der heute Gebursttag hat, seine alte teure Ovation zu holen, dann wird aus dem Hohlkörper sofort einen anderen Raum.

Das sind tatsächlich Dimensionen. Mathematiker wissen das nicht und Physiker beginnen es erst zu ahnen. Die Welt steckt voller Möglichkeitsräume, in die hinein sie sich entwickeln kann. Keine Formel könnte diese je abbilden, kein Vektor sie beschreiben. Aber es ist genau der Weg, den die lebendige Welt geht. Bei jeder Begegnung enstehen zuvor nicht erahnbare und ausrechenbare, neuartige Möglichkeitsräume, Dimensionen, in die hinein sich die gerade entstandene Beziehung entwickeln kann. Wir ahnen das, wenn wir uns gegenüber stehen – etwas in uns checkt und erriecht den möglichen gemeinsamen Raum, es ist der Raum, der den anderen mit einbezieht, beinhaltet und dafür darf sich der eigene sogar verändern. Auf jeden Ebenen unserer Welt ensteht Potenz, sobald sich die Möglichkeitsräume zweier Dinge kreuzen, sobald ein großer Stein vor eine Grünalge rollt, die an Land gespült wurde, hat sie dort Schatten und vertrocknet nicht in der prallen Sonne – es kann Moos aus ihr werden.

Es liegt daran, daß Eigenschaften automatisch Räume entwerfen. Und nicht der Raum die Eigenschaften. Einsteins Raumzeit ist eine wundervolle, kluge mathematische Beschreibungshilfe, die längst nicht mehr ausreicht und viel zu unitär ausgerichtet ist. Sie gibt dem Geschehen der Dinge ein Feld vor, das quasi eine eigene Existenz besitzt, obgleich es nur ein metrisches Infopaket darstellt, das tatsächlich erst und nur durch die Dinge entsteht. Das Weltgeschehen ist weitaus komplexer. Räume entstehen, die mathematisch nicht greifbar sind, und je komplexer ein Ding dieser Welt ist, um so komplexer sind seine Möglichkeitsräume, die gleichzeitig Ausbreitungsrichtungen, also Dimensionen sind, für das was wir Leben nennen. Das passiert sehr real in jeder Sekunde – ist eigentlich auch Physik – aber nicht in Formeln oder in irgendeiner Metrik zu fassen.

Man kann es abkürzen: das Vorhandensein von Dingen erzeugt Potenz. Sofern Dinge Eigenschaften haben, erzeugen sie Raum und Zeit und in ihnen Möglichkeit. Stoßen solche Möglichkeitswelten aufeinander entstehen emergente Phänomene, da Dinge nicht einfach sich gegenseitig zerstören, sondern neue Welten bilden, in denen dann mehr möglich ist als in den Welten zuvor. Das Mögliche ist die Dimension, in der Informationen sich vermählen und zu einer neuen Vokabel werden. Die Welt spricht mit und durch uns. Unsere Art des  Hinhörens gestaltet das, was wir sagen. Und ich schäme mich für die bisweilen maßlose Arroganz unserer Sprache.

Fixpoetry 2011
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge