Sprachschatz
Es ist eine Binsenwahrheit, dass man Eigenes im Spiegel von Fremdem überhaupt erst oder zumindest schärfer wahrnimmt, und diese Binse gilt auch für die Sprache. Sprache ist vielleicht sogar in besonders hohem Maß von ihr betroffen, weil wir alle täglich mit ihr umgehen. Eben diese Selbstverständlichkeit ist es, die dem Dichter hilft und manchmal im Weg steht, die ihn verlockt und blind macht. Die Sprachbahnen im Gehirn werden früh verschaltet, die Neuronenwege sind fest, und das Gehirn ist bekanntlich faul wo und sooft es kann. Zu Gewohnheiten und Blindheiten gehört, was man „tote“ oder erstarrte Metaphern nennt, etwas wie „am Fuß des Berges“, aber auch idiomatische Wendungen wie „das Herz über die Hürde werfen“ oder „ich habe einen Bärenhunger“. Die Ausdrücke sind so selbstverständlich, dass der zugrundeliegende Vergleich gar nicht mehr ins Bewusstsein tritt: Der Berg als Menschenkörper, das Herz als Pferd, der Bär im Magen. Nun liegt „auf der Hand“ (im Deutschen), dass Idiome, in einer Sprache kanonisierte Metaphern, Redeweisen und Sprichwörter den Blick sowie die Eigen- wie Fremdwahrnehmung der Sprachbenutzer färben, lenken oder gar bestimmen – sie bauen eine Welt auf, die anders aussieht und ‚tickt‘ als jene des Sprachnachbarn. Man sollte indes nicht nur auf die langen Bildketten achten; auch kürzere Fügungen wie deutsche Substantivzusammensetzungen leisten hier massive Beiträge. „Sprachschatz“ gehört zu diesen Worten. Die englische Übersetzung spuckt ein dürres „vocabulary“ aus, was natürlich etwas ganz anderes ist als ein Sprachschatz, sowohl in der Beschenkung, die das Wort vornimmt, in dem Versprechen, das es gibt, als auch inhaltlich: der Wortschatz ist mit dem Sprachschatz keineswegs identisch, er ist eine Teilmenge davon.
Als Kind wollte ich niemals Dichterin werden, ich hätte gar nicht gewusst, was das ist, und hasste die Gelegenheiten, zu denen ich von meiner Mutter mit Hilfe von Reimbüchern verfasste Gedichtgebilde aufsagen musste, so sehr, dass ich anfing, die Reime auszulassen, was bald dazu führte, das ich beim Aufsagen ausgelassen wurde. Damit hatte ich dieses Kapitel meines Lebens erfolgreich geschlossen. Was mich allerdings interessierte, und mehr als das: was ich als Versprechen empfand, war all das, was Worte behaupteten, mochte es inhaltlich oder „nur“ lautlich sein: die Schallmauer wollte ich sehen, Flugzeug und Feuerzeug haben sich bis heute in meinem Kopf nicht wirklich voneinander getrennt, Pfarrer gehören auf Fahrräder, und auch einen Mistkerl stelle ich mir bis heute stets sehr konkret vor. Wie den Sprachschatz!
Dass Dichtung ein oder das Mittel ist, ihn zu heben, leuchtet rasch ein. Schließlich ist sie die sprachfixierteste, sprachbetonteste, sprachverrückteste der literarischen Gattungen – oder steht zumindest in dem Ruf, dies zu sein. Doch warum, kann man zu Recht fragen, sollte einen das interessieren. Vielleicht ist das Wort „Sprachschatz“ nichts als eine große Flunkerblase, ein irreführendes Versprechen, Bildungshuberei, dem Untergang geweiht – und die gesamte Dichtkunst gleich mit.
Anlässlich einer Übersetzung stieß ich vor kurzem darauf, es war am Telefon, dass “sich verstecken“ im Niederländischen „sich verstoppen“ heißt. Die oben erwähnte Binse kam zum Zuge, und das Gespräch entwickelte sich zu einem Nachdenken über das Stoppen in Verstecken. Wenn ich etwas von mir oder mich verstecke, stoppe ich es – aber nur zu einem Teil – stecke es hinter eine Wand, mache es unsichtbar, doch etwas (was?) könnte sich weiterbewegen. Ein Wortfeld (Stück Schatz) öffnete sich: wie man sich an einem Versteck ein- oder anhält (gegen einen Sturz?), daran klebt (Schwierigkeiten hat, es zu verlassen), welche Bewegungen des Ent-Stoppens, der Verflüssigung und/oder Beschleunigung man schließlich braucht, um hervorzukommen, wie die Bewegungen miteinander verbunden sind oder in verschiedenen Strömungsgeschwindigkeiten aufeinander sitzen. Anhalt und Anhaltspunkt führten zu Bindung, Billigung und Blendung, die beim Verstecken auf andere zielen, gern aber auch zurückschlagen auf den, der sich ver“stoppt“.
Besonders nützlich: es handelt sich hierbei nicht um subjektive Assoziationen, sondern um Sprachbahnen, gespeichert im „objektiven“, also geteilten Sprachmaterial des Deutschen. Exakt dieser Zusammenhang – sprachlicher Spiel-, Denk- und Fühlraum für den einzelnen, dessen Koordinaten gegeben sind – ist in dem Wort „Sprachschatz“ aufgehoben. Wie man mit Sprache auf Welt zeigt → durchgreift, wie Sprache selbst Zusammenhänge suggeriert oder in ihren Verbindungen/Verwandtschaften Wissen über psychische und kognitive Prozesse enthält sowie von deren Neigung berichtet, sich ineinander zu verkehren. Die Verwandtschaft von Spiegel, speien und Spiel wäre ein anderer dieser Fälle, verbunden mit peilen und geil, liegen und lieb. Fast schon ein Lebenslauf! Die Wortbahnen treffen Phänomene, Erscheinungen. Kein Faktum ohne Kleidung, kein Faktum ohne seine Portion Erfindung, die auch in seiner sprachlichen Gestalt liegt.
Nun ist ein Wortfeld, das Konnotationen und Nervenverbindungen folgt, noch lange kein Gedicht. Und es wird vielleicht nie eines. Eher gleicht es dem Anfang eines möglichen Anfanges - das eine Ende eines der vielen Fäden, die zusammenkommen müssen, damit ein Vers entsteht.
Der prozessierten, vergorenen, bearbeiteten, auseinandergedröselten, gewendeten und betrachteten, aus dem Bekannten ins Unbekannte zielenden Sprache „Dichten“ nähert man sich, wenn man dieser semantisch-konnotativen (Wort)Verbindungsweise jene der Laute bzw. Silben zur Seite stellt. Man sieht hier, von einer vielleicht eher ungewohnten Seite, auf den REIM. Er meint Verbindung durch Ähnlichkeit in einer kleineren Gruppe und manchmal auch im Einzellaut – und ist eben damit Teil des Sprachschatzes im oben beschriebenen Sinn. Nicht (nur) Zufall, sondern Spur: die Möglichkeit einer Möglichkeit
Das mag trivial klingen, wird aber anders, wenn man vom Reim selbst kommt und die Diskussionen über Reime-ja, Reim-nein betrachtet. Eigentlich sind sie ganz obsolet (Obstsalat, Sohlenobst). Es kann nicht darum gehen, einen Teil des Sprachschatzes in Gedichten „wegzulassen“. Im Gegenteil: er möchte so aktiviert werden, dass er „spricht“ - Verbindungen zeigt. Der Reim ist vielgestalt. Elke Erb verdanke ich das Beispiel des Kinderreims „Otto der Doofe geht in die Kurve“: das Ohr also empfindet, auch ganz ohne dichterische Verbildung, „Doofe“ und „Kurve“ als Reim. O und u, v und f, End-e. Das schleift dahin zwischen Reim und Assonanz, schön gekurvt oder „slant“ und dennoch „near“, wie diese Erscheinung im Englischen heißt. Schräge Vögel also – mehr oder minder (zu)geneigt.
Der Spielformen gibt es viele, und wenn man ein wenig die Gelenke der Worte und die eigenen Synapsen schüttelt, wird man locker in Gliedern und Liedern. Man sieht im Hundekorb den Musenhof, und, noch slantiger gefasst, den Musentoast. Der Pinguin neigt zur pumpgun, man beobachtet, wie er dem mitteleuropäischen Jäger die Pirsch ruiniert. Fließend der Übergang, wenn ein Wort durch Vertauschen, Einsetzen oder Wegnehmen eines einzigen Buchstabens in ein anderes übergeht. Mühelos werden aus Hausaufgaben Hauaufgaben, die Reue mutiert zur Reuse, in der man als armes Fischlein zappelt, und aus dem Wort „sachlich“ schleicht der Schlich. Das sind Reim und Verwandtes, Reim & Co, Reim als gliederschlenkerndes, gehirnerweiterndes Sprachnutzungsprogramm.
Mein Lieblingsreim tendiert zur Unsichtbarkeit, er ist eine Art Palimpsestverein - fiktiv oder auf einer fiktiven Basis, schwimmend, aber nicht haltlos erfunden. Manchmal ist das Indogermanische, diese halbfiktive Sprache, dafür sehr nützlich. Die Silbe „grh“, heißt es, habe für Wachstum gestanden. Grh als Geräusch des Wachsens? Dazu kann man unterschiedlicher Meinung sein; je länger ich darüber nachdachte, umso besser konnte ich es hören. Schaut man das Deutsche näher an, findet man die Spuren: Gras, Granne, grün, aber auch Gram. Dass Gram also mit Wachsen verbunden ist?
Scharfstellen des Blickes im gezielten Daneben. So dass man noch etwas vom Angeschnittenen sieht, das Nachbarschaft, Spiegelung, Schätzung erzeugt. Green, grass, grooming, groom – Bräutigam.
Und jetzt erstoppe ich mich! Sprachschatz: wenn Sprache mir Gedanken und Fragen, Anregungen und Verbindungen, Irrsinn, Untergründe, Gelenkigkeit, Geheimnisse und Erfindungen zeigt. Über meinen Kopf hinweg, über mich hinaus.
Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben