Weihnachtskartoffelheld
Mein Freund A., der sich schon immer davor gefürchtet hat, in einer Kolumne von mir verwurstet zu werden, hatte mich letztes Jahr gefragt, ob ich am heiligen Abend gegen sechszehn, siebzehn Uhr schon etwas vor hätte. Ich könne mir zwanzig Euro verdienen, meinte er. Was sollte ich vorhaben, zu einer Zeit, da der Baum halbwegs gerade steht, die Geschenke fast alle eingewickelt sind, im Fernsehen „Drei Haselnüsse für Aschenputtel“ läuft, ich immer noch nicht fertig bin mit dem Verpacken der allerletzten Geschenke, aber schon aufgefordert werde, mir eine vernünftige Hose anzuziehen, damit ich für meine katholische Freundin und ihre Tochter in einem bescherungstauglichen Zustand bin, so daß ich danach ein schönes Stück Fleisch verspeisen und mich gottlos betrinken kann? Warum nicht vorher ein gutes Werk vollbringen?
Je näher der Tag rückte, desto aufgeregter wurde ich. Auf welche Weise würde ich meine Rolle interpretieren? Eher klassisch autoritär, was mein Freund für seinen Nachwuchs bevorzugte, mit Rute raus, unter Aufzählung aller Unartigkeiten des Sohnes, oder lieb alternativ, was mir meine Freundin einzureden versuchte, damit das Kind schöne, traumafreie Weihnachten erlebt. Ich lief durch die Wohnung und probte drei etwas aus der Mode gekommene Stimmlagen aus. Die jovial polternde Bierkutscherstimme, die beruhigende Großvaterstimme aus der Werthers-Echte-Werbung, die einschmeichelnde Stimme eines Kinderschänders alter Schule. Ich klopfte dabei an die Tür des Arbeitszimmers meiner Freundin und holte tief aus mir ein Ho-Ho hervor, und obwohl es jetzt mit „Draußen vom Walde da komm ich her“ weitergehen müßte, sagte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend, Ho-Ho-Ho Chi Minh draußen im Walde da zeig ich mein … - derlei Erheiterungsversuche hatte meine winterdepressive Freundin nun ständig zu befürchten. Diese Übung half mir und unserer Beziehung jedoch nicht weiter.
In der Nacht vor dem großen Ereignis hatte ich auch noch Halsschmerzen bekommen. Ich wurde wach, suchte nach einer Lutschtablette. Dann träumte ich entgegen meinen Vorlieben ein bißchen alb. In diesem Traum setzte ich zu einem Ho-Ho an, doch nur das röchelnde Krächzen eines gerade verscheidenden Hospitzbewohners wurde hörbar. Am Morgen hatte sich der Hals zum Glück etwas gebessert. Im Laufe des Vormittags brachte ich den Baum zum Stehen, wobei ich das Schmücken der weiblich gestaltenden Hand überließ, und zog mich in mein Zimmer zurück. Ich machte ein paar Atemübungen. Nebenan schauten die beiden „Drei Haselnüsse für Aschenputtel“. Ich ging inzwischen die drei zentralen Sätze durch, die ich von der Seite www.die-drei-zentralen-saetze-des-weihnachtsmannes runtergeladen hatte.
1. Wohnt hier der …? (hier ist der Vorname des zu bescherenden Kindes einzusetzen)
2. Warst du denn auch artig?
3. Kannst du auch ein schönes Weihnachtslied singen?
Mein Gegenspieler war vier und glaubte noch streng orthodox an den Weihnachtsmann. Und ich hatte dafür zu sorgen, daß das auch so bliebe. Meine größte Furcht war nämlich, daß er mich unter der Weihnachtsmanncamouflage erkannte, als das, was ich in Wahrheit bin: der Typ, der seinen Vater immer zum Biertrinken abholt. Dann wäre ich Schuld an der Erschütterung einer der tragenden Säulen seiner Kindheit. Kurz vor siebzehn Uhr machte ich mich auf den Weg, beziehungsweise kurz nachdem ich mich auf den Weg gemacht hatte, war ich noch mal zurückgekehrt, um eine Kartoffel einzustecken, schließlich machte ich mich endgültig auf den Weg. Ich hatte Lampenfieber wie schon lange nicht mehr. Mein Freund A. öffnete mir die Tür und führte mich in den Keller. Es sind ja immer die Keller, wo das Unfaßbare seinen Ausgang nimmt. Dort half mir A. in ein billiges Weihnachtsmannkostüm hinein. Er beteuerte, daß es für unsere Zwecke ausreichend sei, solange mir nicht die Hose runterrutschte. Der Gummizug war, wenn er überhaupt existiert hatte, nicht zu gebrauchen. Ich zog das Schlabberteil bis zu den Achselhöhlen hoch. Über meinen echten roten Bart hängte ich den weißen Wattebart. Ich bekam den Sack mit den Geschenken in die Hand gedrückt. In drei Minuten sollte ich oben an die Wohnungstür klopfen. „Viel Glück“, sagte mein Freund. Dann war ich allein. Nun gab es kein zurück mehr. Er hatte mich vorher mehrmals eindringlich gefragt, ob ich das wirklich tun wolle. Das wurden die Männer vor dem Afghanistaneinsatz auch. Mit den Schuhen so laut es geht aufstampfend, stieg ich die Treppe hinauf. Oben angelangt, klopfte ich an die Tür und rief mit tiefer Stimme, so wie ich es geübt hatte: Wohnt hier der Kevin?
Zwecks Datenschutz habe ich den in bildungsnahen Schichten wieder in Mode gekommenen sehr deutschen Vornamen des Jungen durch Kevin ersetzt, was praktisch der Komplementärname zu seinem eigentlichen Namen ist. Die Frau meines Freundes öffnete die Tür, neben ihr stand Kevin, der mich mit extrem geweiteten Belladonnaaugen anstarrte. Das war die Wirkmacht des Glaubens. Sie macht noch aus jedem falschen Bart einen Propheten. Kevins Mama führte mich ins Wohnzimmer, in dem eine festlich überladene, ziemlich mickrige Tanne stand. Das ist aber ein schöner Weihnachtsbaum, tönte ich in den Raum hinein. Seitlich standen die Großeltern, die nun gleichzeitig, „Guten Abend lieber Weihnachtsmann“, sagten. Im Grunde hätte ich mich jetzt völlig daneben benehmen können. Die geöffnete Sektflasche, die auf dem Tisch stand, in einem Zug leer saufen. Der Frau meines Freundes einen kräftigen Klaps auf den Hintern geben. Meinen Freund A. vor versammelter Familie runtermachen, weil er aus Geiz dieses kleinwüchsige Bruchholz in die Bude gestellt hat. Und allen bliebe nichts anderes übrig, als es geschehen zu lassen. Denn ich war der Weihnachtsmann. Ich habe die Macht. Und wenn ihnen weiterhin daran gelegen war, daß der Sohn an mich glaubte, dann sollten sie lieber gute Miene zum heiligen Zauber der Weihnacht1 machen. Ich fragte Kevin, ob er auch ein schönes Weihnachtslied singen könne. Er blieb stumm und schien verwirrt. Sein Vater mußte ihn mit der Gitarre unterstützen. Kevin fiel förmlich vor mir auf die Knie, faltete die Hände wie zum Gebet und sang stockend nach, was der Papa vorsang. Hätte er eigentlich alleine hinkriegen müssen. Die Demutshaltung stimmte mich trotz allem versöhnlich. Ich zog die Geschenke aus dem Sack. Eins nach dem anderen. Als der Sack fast leer war, schob mir die Großmutter betont unauffällig noch irgendeinen ungesunden Süßkram zu, der von ihrer Schwiegertochter anscheinend nicht als offizielles Geschenk zugelassen worden war und dem ich nun das Prädikat Vom-Weihnachtsmann-persönlich-überreicht verleihen sollte. Gegen Großmütter ist auch der Weihnachtsmann am Ende machtlos. Also reichte ich die Zuckerbombe an Kevin weiter. Aber da war noch die Kartoffel, die ich mir für den Schluß meines Auftritts aufgehoben hatte, meine Droh- und Mahnkartoffel, Symbol dafür, in Zukunft immer artig den Teller leerzuessen. Ich brummte: „Und hier habe ich noch eine Kartoffel für dich, weil ich weiß, daß du so gerne Kartoffeln ißt“. Das sollte ironisch gemeint sein. Was ich nicht wußte, daß der Kevin tatsächlich gerne Kartoffeln aß, und daß Kinder keine Ironie verstehen. Er hielt sie in seiner Hand wie einen kleinen Schatz. Wie ich später erfuhr, wollte er am andern Tag unbedingt genau diese Kartoffel essen. Die Kartoffel vom Weihnachtsmann, wie er sie nannte. Die wurde von der Mama geschält und in einem kleinen Extratiegel gekocht. In großer Andacht soll er sie verspeist haben. Erst als mir das erzählt wurde, fiel mir auf, daß ein Weihnachtsmann, um erzieherisch zu wirken, anscheinend noch nie mit einer Kartoffel gearbeitet hat. Höchstens sein Kollege, der Nikolaus, und womöglich stopfte dieser nur bei mir einstmals, als ich klein war, alte Kartoffeln in den Schuh. Das versteht wohl ansonsten kein Mensch. Die Mutter von Kevin ja auch nicht. Sie war davon ausgegangen, daß ich mir gemerkt hätte, wie gern ihr Kevin Kartoffeln aß. Eine Kartoffel ist eben keine Rute. Und die Rute wurde im Zuge der 68er Revolution aus dem Arsenal des Weihnachtsmannes verbannt. Die Zeit der schwarzen Pädagogik ist vorbei. Da kann man nichts machen. Aber vielleicht ist mir an diesem Abend etwas viel Wichtigeres gelungen, und zwar die „Kartoffel des Weihnachtsmannes“ als eine neue Tradition zu begründen. Eines Tages, wenn Kevin, der in Wahrheit eher Friedrich oder Anton heißt, selbst Vater geworden ist, wird er einen als Weihnachtsmann verkleideten Freund bitten, bloß nicht die Kartoffel zu vergessen, die immer zum Abschluß der Bescherung überreicht wird. In ganz Deutschland wird sich dieser Brauch durchsetzen, als Symbol der Bescheidenheit, des nachhaltigen Umgangs mit den Ressourcen, als Mahnung daran, es auch zu Weihnachten mit dem Fleischkonsum nicht zu übertreiben und lieber eins, zwei Kartoffeln mehr zu schälen.
Mit dem schönen Gefühl, etwas Gutes getan und dabei einen Zwanziger verdient zu haben, den ich nicht ablehnen konnte, wenngleich ich das auch nicht vorgehabt hatte, verließ ich die Wohnung meines Freundes. Ich freute mich schon auf die fette Qualfleischportion,2 die meine Freundin bald aus dem Ofen holen würde, auf die Flasche Krimsekt, und auf paar Flaschen mehr, auf eine schöne gebundene Gesamtausgabe, am besten in Leder. Meine Halsschmerzen waren verflogen. Es war Weihnachten.
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