Ferien auf Hiddensee
Das Besondere an Hiddensee ist, daß der ortsübliche Mann, wo er doch überall sonst in symbiotischer Gemeinschaft mit dem Auto lebt, ohne Auto auskommen muß. Was man in Deutschland für unmöglich hält, passiert dort tagtäglich. Er läuft, fährt Fahrrad, oder sitzt auf dem Bock eines zwei PS starken Kutschengefährts, mit dem er in Kloster ankommende Rentner, die kaum noch laufen, geschweige denn Fahrradfahren können, über die Insel kutschiert. Autofahren dürfen einzig der Arzt (der allerdings weiblich ist, womit sich der Anteil Auto fahrender Männer noch weiter reduziert), der Polizist, der Busfahrer des kleinen Inselbusses, und der Havariedienstleister für Klempner- und vergleichbare Tätigkeiten. Dieser, in einem Rückfall ins Instinktverhalten, preschte dann am rasantesten an den Radfahrern vorbei, als müßte er einen Rohrbruch abdichten, der die Insel mit sofortigem Untergang bedroht. Man merkte es ihm an, er genoß den Rausch der Geschwindigkeit, der sich hier auf der Insel allerdings bei circa vierzig km/h einzustellen hat. Für den gemeinen Festlandsmann bietet diese Insel also nicht viel. Hiddensee ist eine Fraueninsel. Das kann man schon auf der Fähre beobachten. Männer sieht man höchstens in Begleitung von Frauen. Frauen sieht man auch in Begleitung von anderen Frauen, oder in Begleitung von Kindern, oder nur mit sich selbst. Jene sind dann oft mit der Findung desselben beschäftigt oder wollen dessen Heilungskräfte ermuntern. Auf der Insel wird von Yoga bis Heilfasten auf dieses Bedürfnis reagiert. Apropos Fasten. Besonders putzig fand ich eine Gruppe von Berliner Altlesben. Sie trugen karierte Hemden, Cargohosen und ihre graumelierten Haare äußerst kurz. Kaum hatten sie die Fähre betreten, deckten sie sich erst mal mit Bier und Fischbrötchen ein, was von einem entspannten Verhältnis zu ihrem Körper sprach, das durch nichts zu rechtfertigen war. Zu Hause am Schreibtisch hat man natürlich immer eine große Klappe, auf dem Schiff beobachtete ich so devot wie möglich. Mit Berliner Altlesben legt man sich am besten nicht an.
Ich wurde von meiner katholischen Freundin nach Hiddensee mitgenommen. Obwohl ich männlich und aus Sachsen-Anhalt bin, erlebe ich diese Insel als einen mir guttuenden Ort. Das ist nur möglich, weil ich meine geschlechtsbedingten Urreflexe, also lautes und riskantes Verhalten in jeglicher Hinsicht, von Fremdgehen über Motorsport bis hin zu Lesbenärgern, in jahrelanger Sublimierungsarbeit überwunden habe. Man möchte es nicht glauben, aber auch ich war mal auf der Jagd und saß bei aus dem PKW-Gehäuse schallender, rhythmusbetonter Musik hinter dem Steuer, wobei ich jedem oberweitenbegabten Wesen am Straßenrand wilde Blicke zuwarf. Das Auto gehörte meiner Mutti und ich sollte Oma zum Kaffee abholen. Über diese Zeit möchte ich jedoch nicht weiter sprechen. Mein viriles Reptilienstammhirn reagiert inzwischen sehr ausgeglichen auf die Hiddenseestille, den einsamen Ruf der Wildgans und das keusche Kuschelbedürfnis meiner katholischen Freundin bei Kerzenschein. Wir gingen viel spazieren. Ich hatte meine Kamera dabei und fotografierte das Meer und den Himmel oder im Nahaufnahmemodus Beeren und Blüten, die mich immer mehr entzückten. Beinah hätte ich ein Sträußchen davon zusammengepflückt, um unsere Ferienwohnung zu verschönern. Im Anschluß dieses Urlaubs würde ich sehr viel Zeit mit meinen Kumpels verbringen und gegen meine Gewohnheit etwas Ego-shooter spielen müssen, damit sich das wieder ausgleicht.
An unserem zweiten Strandtag begegneten wir wieder den putzigen Altlesben, wie sie sich gerade aus ihren karierten Hemden und Cargohosen schälten, um sich der unterkühlt vor sich hin schwappenden Ostsee mit energischen Schritten zu nähern. Sogar ich war mal kurz im Wasser, nackt wie die Evolution mich schuf, und als wollte mir die kalte See zu verstehen geben, daß das Anhängsel da vorn an mir dran auf dieser Insel ein Atavismus sei, schrumpfte sie es auf Knaben- wenn nicht gar Säuglingsgröße zusammen, und hätte ich nur eine Minute länger im Wasser verbracht, wer weiß, ob ich ihm nicht als Hermaphrodit entstiegen wäre. FKK ist jedenfalls nicht mein Ding, bzw. nicht für dieses geschaffen. Denn als ich mit meinem fast vollständig ins Körperinnere verschwundenen zurück an Land bibberte, begann es sich in der Sonne schon wieder bedenklich auszudehnen. Und spätestens als ich meiner katholischen Freundin den Rücken eincremen sollte... Das ist mir alles zu stressig. Beim FKK wie beim Pornofilmdreh haben es die Frauen eindeutig leichter. Männer müssen entweder fürchten, daß etwas steht oder daß nichts steht. Jetzt verstehe ich auch, warum auf den Filmaufnahmen der Reformnudisten aus den Zwanzigern so exzessiv herumgeturnt wird. Es ist ein unterdrückendes, wenn nicht gar verzweifeltes Dagegenanturnen.
Aber wozu schreibe ich das alles. Um mich an den Tag heranzuschreiben, an dem wir das uns aus früheren Besuchen liebgewordene Hiddenseeer Heimatmuseum besuchten. Doch nein! Wo waren sie, die liebevoll zusammengetragenen, im Raum verstreuten Alltagsgegenstände, an der Decke schwebenden Schiffsmodelle, Reusen, Netze, Kleidungsstücke. Alles entfernt. Der Raum war mit klinisch weißen Schau-, vielmehr Lesetafeln vollgestellt, per Kopfhörer konnte man sich langatmige Zitate anhören. Das ist moderne Museumskonzeption. Wo war er, der Museumsdesigner, um ihn, nach altem Schifffahrtsritus, weit draußen auf See in einem Beiboot auszusetzen. Statt der Heimatgeschichte diente über ein Drittel der Stellfläche jetzt dazu, möglichst alle Künstler und Literaten zu erwähnen, die irgendwann mal ihren Urlaub auf Hiddensee verbracht haben. Daß Gerhart Hauptmann eine Tafel gekriegt hat, ist ja ok, er hat dort gelebt und liegt auf dem Inselfriedhof. Aber für Gottfried Benn eine riesige Tafel, mit diesem typisch mürrischen Gottfried Benn Kopf der Fünfziger Jahre darauf, und sonst nichts weiter als der Hinweis, er sei vom 13. bis 18. Juli 1913 auf Hiddensee gewesen. Ich möchte Gottfried Benn nicht in einem Heimatmuseum sehen. Gottfried Benn ist heimatmuseumsuntauglich. Oder wer möchte irgendwann eine Schautafel erblicken müssen, auf der zu lesen steht: Der Kolumnist Kreis besuchte im Sommer 2011 Hiddensee. Im Anschluß schrieb er eine Kolumne über seinen Penis und einige Berliner Altlesben. Die Nacktaufnahmen seines Unterleibs stellte freundlicherweise das Deutsche Literaturarchiv Marbach zur Verfügung.
Diesem Heimatmuseum möchte ich auch noch folgendes Gedicht anempfehlen. Das können sie dann auf die Schautafel drucken lassen.
Hiddensee Impression
Ganz oben im Dornbusch auf Hiddensee
kann ich mich gar nicht erwehren
des Eindrucks, fast alles, was ich dort seh,
ist vollbehangen mit Beeren.Mit rötlichen Beeren, unmöglichen Beeren
und Beeren ganz in Orange.
Ich könnte mich nur von Beeren ernähren,
im Bauch eine Beerenmelange.Die Beeren dürften auch Namen haben,
doch bin ich kein Beerenbestimmer.
Im Kuchen müssen sie Damen laben,
im Schnaps ist die Wirkung meist schlimmer.Denn Hiddensee ist ja neben den Beeren
auch voll mit seebärigen Damen,
die gerne intim mit dem Meere verkehren,
ganz nackt und ohne Erbarmen.
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