Brief aus Berlin [4]
Madame Schoscha lebt seit Kurzem in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, über die sie sich gegenseitig berichten, sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der mehrfach im Jahr in einem Schöneberger Theater stattfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag. Es scheint sich daraus eine wahre Brieffreundschaft zu entwickeln.
Illustration: Larisa Lauber
Berlin, Januar 2013
Liebe Madame Schoscha,
ich hoffe, Sie sehen mir nach, dass ich mir für die Beantwortung Ihres letzten Briefes wieder etwas Zeit genommen habe. Zunächst einmal herzlichsten Dank für die reichhaltigen Eindrücke aus der Ferne und Ihre köstlichen selbstgebackenen Kekse. In diesem sonnenlichtarmen Monat ist man mehr denn je für süße Momente empfänglich. Ich hatte Freude an der Vorstellung, wie Sie vermutlich mit hochgesteckten Haaren in Ihrer warmduftenden Küche standen und mit sinnlichem Geschick die Geschenkdosen befüllt haben. Zu diesem Bild hatte ich gleich Ihre selbstvergessene Mitsingstimme im Ohr. Eine kurze Tonspur aus der Vergangenheit, die mir Beleg dafür ist, dass das leise Gefühl von Vertrautheit nicht in den großen Gesten verborgen liegt. Mein Vorschlag für den nächsten Küchensoundtrack sind die beiden wiederentdeckten Studioalben von Sixto Rodriguez. Der verlorene Sohn der US-amerikanischen Folkszene wird Ihnen ganz bestimmt gefallen. Seine eindringliche Stimme hat mich sofort in den Bann gezogen. Da sitze ich für einen Moment furchtlos wie Mogli vor der Schlange Kaa und lasse mir sagen: “Hör' auf mich, glaube mir!“
Ist nicht eine wesentliche Qualität von guten Musikerlebnissen, dass sie uns für eine Weile furchtlos machen?
Gegenüber der Verlorenheit im Goldfischglas und all den aufzählbaren Restrisiken.
Während ich das schreibe wird mir klar, dass ich unbewusst doch einen guten Vorsatz gefasst habe. Ich möchte im neuen Jahr wieder mehr Musik erleben. Hören tue ich ausreichend. Das lässt sich prima auf alle Lebensbereiche übertragen und ist zudem allgemein genug formuliert, um nicht deutlich daran zu scheitern. Dem guten Vorsatz als traditionellem Bestandteil der katholischen Beichte werde ich damit allerdings noch nicht gerecht. Wie nachzulesen ist, sollte dieser konkret, machbar klein und spürbar groß sein.
An dieser Stelle wollte ich Ihnen von konkreten, kleinen Kulturprojekten berichten. Die Witterung und der großstädtische Schneematsch haben mich jedoch davon abgehalten, neugierig vor die Tür zu gehen. Bei einem der wenigen abendlichen Ausflüge bin ich mit einer Neuberlinerin ins Gespräch gekommen. Die junge Uniabsolventin fragte mich, wo sie aktuelle Kulturempfehlungen finden könne. Ich habe ihr guten Gewissens die gängigen Stadtmagazine empfohlen. Woraufhin sie etwas resigniert nachhakte, ob es nicht eine Plattform im Internet gäbe, wo nur die besten Tipps zusammengestellt würden. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass mir solch ein Dienst nicht bekannt sei, während sich mein Hirn gleichzeitig ein M.C. Escher Bild mit einer endlosen Reihung von Metakultursuchmaschinen herbei fabulierte. Die Menschen unseres Zeitalters scheinen inzwischen hauptsächlich mit der Filterung von Informationen beschäftigt zu sein. Wir sortieren uns zu Tode.
Ich würde zu gern bei einem kräftigen Glas Rotwein mit Ihnen die Frage diskutieren, was der heutige Mensch jenseits von Logarithmen noch zu hoffen wagt. Nicht nur für das Jahr 2013, sondern vielmehr für die kommenden Jahrzehnte. In Ermangelung Ihrer Gegenwart habe ich die passenden Themen im Fragebogen von Max Frisch daraufhin durchgesehen. Diese Fragesammlung wurde seit der ersten Unterrichtsstunde Philosophie mein treuer Wegbegleiter durch die ersten allgemeinen und konkreten Verunsicherungen.
Aus diesem zeitlosen Fundus habe ich eine Kernfrage herausgesucht: „Was erfüllt Sie mit Hoffnung: a. die Natur?/ b. die Kunst?/ c. die Wissenschaft?/ d. die Geschichte der Menschheit?“
Für den Fall, dass sich Ihr Wesen in der Fremde nicht sonderlich verändert hat, glaube ich zu wissen wie Ihre Gewichtung ausfallen wird. Meine Beschäftigung mit dieser Frage führte mich jedenfalls ins Kino, um den neuen Tarantino zu sehen. Auch an diesem Abend blieb die Kunst als Hoffnungsträger gegenüber der Menschheitsgeschichte klarer Sieger. Und im Abspann könnte stehen: „Man sieht nur was man weiß.“
Rolf Dieter Brinkmann empfiehlt in seinen „Briefe(n) an Hartmut“ gegen die Enge im Kopf die Platte „Good old boys“ von Randy Newman. Musikalischer Vertiefungstipp zur Komplexität von Vorurteilen und Rassismus ist das Eröffnungslied „Rednecks“. Der unzuverlässige Erzähler in diesem Popsong soll zur Veröffentlichung 1974 eine echte Herausforderung für das Publikum gewesen sein.
Auf besondere Weise herausgefordert hat mich auch Ihr mitgesandter katalanischer Scheißer aus Schokolade. Ich habe ihn noch nicht gegessen, sondern prominent auf meinem Schreibtisch platziert. Sein Anblick dient mir als täglicher Relativierer und gemahnt mich nach längeren gedanklichen Flugübungen wieder rechtzeitig auf den Boden der Tatsachen zurück. Er erfüllt auf diese Weise den gleichen Zweck wie ein blank polierter Totenschädel, wirkt aber für das Raumgefühl weit weniger dramatisch.
In guter Hoffnung, dass Sie spätestens im Sommer einen Besuch in Berlin einplanen,
Ihr Herr Altobelli
PS: Beigefügt erhalten Sie wieder eine Illustration der Schöneberger Künstlerin Larisa Lauber. Sie wird auch in diesem Jahr meine Briefe an Sie um eine wunderbare Dimension erweitern.
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