Lesart
Annette Hagemann

Chinatown

fast hätte ich den glücksdrachen gekauft
an dem morgen auf dem chinesischen markt
da bauten sie noch die stände auf und schon
hatte ich ihn gesehen: sehr freundlich
sehr entgegenkommend im wind
mit einem großen grinsenden kopf aus papier
oder pappmaché gelockten augenbrauen:
einem kopf aus lachsfarbenem papier
und einem lachsfarbenen schweif
der zwei bis drei meter lang im wind schlug
bereit zum ausritt das konnte man sehen
wir lachten uns an und beinahe hätte ich
ihn mitgenommen: egal zu welchem preis
doch ich war noch nicht soweit für so viel glück

Löcher im Schutzschirm

Wir kennen den Drachen aus unseren Märchen als das böse, bedrohliche Ungeheuer, durch dessen Eliminierung furchtlose Recken ihren Mut beweisen können. Der Glücksdrache in Annette Hagemanns Gedicht „china town“ scheint schon per definitionem das Gegenteil jenes perfiden Monsters zu sein. Doch liegt der Unterschied nicht vor allem im Auge des Betrachters? Auch der Glücksdrache ist un-geheuer, un-vertraut, fremd.

Das altgriechische Wort für Glückseligkeit ist εὐδαιμονία. „Eudaimonia“ bedeutet „einen guten Dämon habend“. Der christlich-abendländische Dogmatismus konnte mit solcherart Geist nichts anfangen und hat ihn deshalb buchstäblich verteufelt. Das Erbe dieser Kultur ist unser Bestreben, immer auf Nummer Sicher zu gehen, uns möglichst in allem des Einklangs unseres Fühlens, Denkens und Tuns mit den ‚bei uns‘ anerkannten und gültigen Regeln zu vergewissern. Damit halten wir den un-heimlichen Dämon von uns fern oder versuchen es zumindest.

Aber die ‚modernen Zeiten‘ lassen diesen Schutzschirm zunehmend löchrig werden. Manche entfalten hektische Aktivitäten, die Löcher zuzukleben, andere schauen hingegen mit vorsichtiger Neugier durch sie hindurch, um das ANDERE zu entdecken, auch für sich selbst. „Mut“ in heutiger Zeit ist anders zu definieren als es die Ritter-Ideologie der Märchen und manch ein Bestsellerautor dieser Tage uns weismachen wollen. Sie betrifft die Frage, ob und wie weit wir uns auf den fremden Dämon einlassen und ihn bei und in uns heimisch werden lassen wollen. Sollten wir, bevor wir dies vielleicht tun, erst Gewissheit darüber erlangen, ob es ein guter Dämon, ein Glücksdrache, ist? Können wir dies überhaupt vorher wissen?

Das Zögerliche des lyrischen Ichs – „fast“ (V. 1), „beinahe“ (V. 12) – drückt den Schwebezustand zwischen Offenheit, Mut auf der einen Seite und Besonnenheit auf der anderen wunderbar aus. Das Gedicht führt uns einen Zustand der Überlagerung verschiedener Bewusstseinsstufen und Haltungen mit dem schönsten Bild, das es dafür gibt, vor Augen und dies trägt sicherlich zur Eudaimonia vieler Leser bei.

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