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Kritik

Inventur in ziviler Umgebung

Günter Eichs niederbayrische Jahre
Hamburg

„Man kann nicht allen Figuren zugeneigt sein, die man beschreibt. Diese beiden, Ernst und Lotte Zimmer, habe ich, schreibend, zärtlich geliebt“, heißt es in Peter Härtlings Hölderlin-Buch. Mit dieser Anmerkung zum Epilog in seinem Buch über Günter Eichs niederbayrische Jahre hat Roland Berbig im Wallstein-Titel Am Rande der Welt abschließend  eine vergleichbare Liebeserklärung an die Spenglerfamilie Schmid aus Geisenhausen bei Landshut abgegeben, deren Zeugnisse (Briefe; Berichte, mündlich wie schriftlich) über ihren Hausgenossen „Günter“ der Autor ins Zentrum seiner Erläuterungen zu Günter Eichs Leben rückt zwischen 1944: Da war Eich bei den Schmids als Soldat zwangseinquartiert worden; klopfte ein halbes Jahr später wieder an – schwach, desillusioniert, noch mit Bildern behaftet von kalten Nächten als Gefangener in Lagern am Rhein,  hilfsbedürftig und 1954: Da konnte er an der Seite seiner Ilse, Ilse Aichinger weiterziehen, der kongenialeren Ehefrau in seinem Leben, die ihrerseits sogar, als seien es Worte von Eich selbst, von Geisenhausen als „eine der eigentlichen Begründungen meiner Existenz“ spricht.

Bekannt ist, dass Günter Eich wenig daran lag, künftigen Biographen die Arbeit zu erleichtern. Deswegen war es klug vom Autor, eine Zeitspanne auszuwählen, die hinreichend einsehbar erscheinen konnte und die, glücklicher- und auch unbestreitbarer weise, besondere Bedeutung für Günter Eichs Leben als Mensch und Schriftsteller hatte.

Die ihn wegführte vom soldatischen Marsch in unbekannte Richtung zu beschaulich besinnlichen Fußwanderungen auf immer gleichen Strecken in immer gleicher Begleitung, durch die Wirtsfamilie nämlich;  die wegführte von seiner morphiumsüchtigen ersten Ehefrau hin zur Bekräftigung alter Literaten- (z.B. Kasack, Krolow, Andersch, Eggebrecht) bzw. Errichtung neuer Männerfreundschaften (Brambach) hin schließlich zu einer neuen Ehe. Dazu mit Ilse Aichinger!;  weg von der, so darf doch vermutet werden, Hintanstellung literarischer Kernbefähigungen bei den hauptsächlich Rundfunkarbeiten während der NS-Zeit  hin zum ästhetisch innovativen Hörspiel-Starautor mit kompromisslos zugespitzter Aussage; weg vom reimenden hin zum Lyriker des neuen Laufs mit manchem Blick auf Fernost.

Der Autor mag Eich und die Personen, die jenem wohlwollten: Wenn Eichs Taschenkalender  - die für Chronologie und Sache weitere bedeutende Quelle Berbigs - einmal nichts hergibt, Wirtsfamilie sowie Korrespondenzen mit Literatenkollegen (z.B. auch Höllerer) nicht genügend verdeutlichen, enthält Berbig sich ausdrücklich und respektvoll einer abenteuerlichen  Spekulation oder wir lesen ein „Vielleicht“.

Wenn „Interpreten Eichs“ – Zwischenfrage: Will Berbig selber denn keiner sein, bloß ein Erzähler? (Klappentext: „Das entscheidende Lebenskapitel Günter Eichs erstmalig aus den Quellen erzählt.“)  - aus dessen Aufzeichnungen das Bild Eichs als eines Zynikers erstehen lassen wollen, erstellt Berbig im wesentlichen das Porträt eines „im tiefsten Inneren … glücklichen Menschen“ , so Eichs eigenen Worten über sich folgend.

Wenn Hans Werner Richter Im Etablissement der Schmetterlinge (1986) in seinem Kurzporträt zu Eich als Gruppe 47-Mann mehrfach dessen Verzweiflung in puncto erster Ehefrau herausstreicht, kontert er barsch (ansonsten pflegt Berbig ja einen betont höflichen Ton): „Richters Portrait weist starke Unstimmigkeiten auf und taugt nicht als historisches Dokument.“

Doch natürlich ist Berbig, als Professor für Neuere deutsche Literatur selber auch Interpret, wenn er, wieder in schärfster Abgrenzung zu Richter, etwa behauptet, „Eichs Gedichte suchen tunlichst jenen bebenden Zungenschlag zu vermeiden, sie fahnden nach Sachlichkeit. … Sie prüfen, ob etwas mit den Wörtern geschehen ist, mit der Sprache – der des täglichen Gebrauchs und jener der Poesie.“

Der stets heiklen Problematik bzgl. eines deutschen Literaten, der nach 1933 im Lande blieb, stellt sich Berbig durchaus, ohne das Thema besonders auszuweiten. Hauptstütze für seine wohl  eigene Position - Axel Viereggs abweichende Sichtweise wird aber im Anhang ohne weiteres erwähnt. - ist dabei Hermann Kasack, „dessen Haltung gegen das NS-Regime unzweifelhaft war“ (Berbig) und dessen Aussagen pro-Eich gegenüber den einschlägigen Behörden er zitiert: „ Er (Eich, R.S.) hat die nationalsozialistische Ideologie stets abgelehnt.“

Das Leben Eichs zwischen 1944 und 1954, wie es auf ihn eindrang und wie er es strukturierte, illustriert Berbig aufwändig, anschaulich und schließlich nachvollziehbar: Die unverhoffte menschliche Stärkung, die dem bald so berühmten Hörspielautor und Lyriker durch den Familienanschluss an die Schmids und die offensichtlich Seelenruhe stiftende niederbayrische Provinz zufließt . (Erhellend etwa, wie dargelegt wird, dass Eich tendenziell jede Wanderung einem literarischen Termin vorzieht.) Das mehrfach herangezogene Parallelschicksal zu Hans Erich Nossack (Verlust der Manuskripte nach Ausbombung; bei Nossack Hamburg, bei Eich Berlin); dessen Tagebücher hauptsächlich wie auch die von Ernst Jünger. Die zeitgeschichtlich-literarische Einbettung durch wiederholten Verweis auf Hannah Arendt, Heidegger, auch Jaspers, besonders Thomas Mann.

Das Buch, wie schon gewohnt von den Wallstein-Titeln mit wissenschaftlicher Konzeption, ist sorgfältig und grafisch benutzerfreundlich ausgeführt. So ist die Kapitelziffer über jeder Textseite angegeben, so dass die Fußnoten (85 Seiten) im Anhang schneller aufzufinden sind. Es folgen noch Literaturverzeichnis und Anhang. Zahlreiche für Leser wohl erstmalig zu sehende Fotos suggerieren zusätzlich die von Berbig vorgestellte Sichtweise, dass Günter Eichs Nachkriegswerk aus Hörspiel und Lyrik in neun niederbayrischen Aufbaujahren formiert wurde; Jahre und Orte, welche Inventur sowie Strategie und Durchführung einer herausragenden literarischen Leistung in Deutschland mit ermöglichten.

Roland Berbig
Am Rande der Welt
Günter Eich in Geisenhausen 1944–1954
Wallstein
2013 · 536 Seiten · 34,90 Euro
ISBN:
978-3-8353-1259-3

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