Vollendet unvollendete Verse
„wiederum bleibt heute nacht ein vers unvollendet / baz na-tamam mi-mahnad emshab she’ri“ lautet der Titel der allerersten deutschen Übersetzung von ausgewählten Gedichten der iranischen Lyrikerin Nahid A. Mussavi (ins Deutsche von Jutta Himmelreich, soeben erschienen bei Goethe & Hafis, Bonn). Der Titel ist bezeichnend. Aufgrund der rigiden Zensur sind Mussavis Werke in Iran bislang unveröffentlicht, ihr Debüt erschien 2011 auf Farsi im Kölner Forough Verlag.
Ihre Verse sind düster und melancholisch, erzählen von Resignation und Verfall, sie suchen stets den Blick hinter die Fassade des Augenscheinlichen, um die Verwerfungen und Widersprüche offenzulegen, es geht um das Individuum, das der Politik machtlos gegenübersteht. „vielleicht / die menschen liebevoll / in ketten legen / und in ihre bücher / mit schwarzer schrift / weiße schicksale / schreiben“ – Mussavi lässt den Leser stolpern, verführt ihn mit faszinierenden, hintersinnigen Sprach- und Bildspielen.
Die Gedichte sprechen von verklärter Erinnerung, die überlagert wird vom Jetzt und bisweilen von der Frage, ob dem behüteten Blick des Kindes im Garten der Großmutter wirklich entgangen ist, dass es eine heile Welt unterm Baumschatten eigentlich nie gab. Dabei arbeitet die Dichterin mit Natursymbolen, die auf das menschliche Miteinander im Kontext der Unterdrückung verweisen.
dort in der ferne
erlischt nacht für nacht
die laterne auf einem dach.
und in der hütte
richtet sich die angst ein,
die ihre bewohner
zu toten von morgen macht.
Es ist eine ständige Bedrückung, die Atmosphäre dunkler Vorahnungen, die sich in den Versen eingenistet haben, auch in den Liebesgedichten, die klassische Bilder aufgreifen und in ein zeitgemäßes Gewand kleiden. „schwermut ist in die stadt eingezogen“, in der längst die lebenden Toten regieren, die Herzen sind hier so welk wie die Blätter der Bäume, das Blühen im Frühling kaum mehr als ein verwaschener Traum. Oder eine Hoffnung? Manchmal weiß man das nicht so genau, „wenn wir allein / lieder singen / zum lobe der sinkenden sonne / und ihr aufgehendes licht / aus xem gedächtnis streichen“.
Diese Verse müssen zwangsläufig „unvollendet“ bleiben, bei aller Vollkommenheit dieser klaren Sprache in der Übertragung von Jutta Himmelreich. Über allem steht der Zweifel, auch die Melancholie hat längst Risse bekommen, durch die wieder etwas hindurscheinen kann, und bis dahin heißt es: „wach bleiben / und die nacht begleiten.“
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