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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Von der Erleuchtung zur Durchleuchtung

Hamburg

Gerade momentan, angesichts des längst noch nicht verarbeiteten Spähskandals und der damit verbundenen Neuorientierung im Umgang mit dem Internet, wird die Ambivalenz eines Modewortes wie „Transparenz“ deutlich. Lange Zeit hielt man Transparenz für den Heilsbringer schlechthin, politisch und persönlich, alles sollte transparent werden, damit Mitbestimmung möglich wäre, damit die Welt immer demokratischer und besser würde. Dieser Traum hat der Wirklichkeit nicht standgehalten. Anfang Januar schrieb Sascha Lobo im der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung von der „digitalen Kränkung des Menschen“, und meinte damit durchaus auch den Traum der Transparenz, der gerade weil er sich verwirklicht hatte, zu einem Albtraum geworden war. Nicht für Gott und die himmlischen Heerscharen ist der heutige Mensch transparent, sondern für die Geheimdienste.

Aber welche Geschichte steckt eigentlich in diesem Traum von der Transparenz, der Möglichkeit alles durchschauen zu können? Wo hat er seine Ursprünge? Diesen Fragen geht Manfred Schneider in seinem Buch „Transparenztraum“ nach.

Die Ursprünge des Transparenztraums verfolgt Schneider zurück zu Descartes Introspektion und illustriert wie sich die Idee der Durchsichtigkeit im Wahn der Melancholiker einen Körper aus Glas zu haben, niederschlägt. Gerade dieses seit dem Altertum überlieferte Phänomen, sich einzubilden, der eigene Körper sei aus Glas, breitet Schneider durchaus unterhaltsam durch zahlreiche historische Fallbeispiele aus Literatur und Philosophie, aber auch durch die Erwähnung ärztlicher Zeugnisse aus.

Von der äußerlichen Durchsichtigkeit (der Mensch aus Glas) geht Schneiders Zeitreise auf den Spuren des Transparenztraums zur inneren, zum Herz aus Glas und dem Erkunden des eigenen Gewissens und der Transparenz der Gesten und Worte. Oder platter ausgedrückt: von der Erleuchtung zur Durchleuchtung.

Im Panoptikum wird das Prinzip der Überwachung architektonisch umgesetzt, ein Prinzip, das auf die Gesellschaft übergreift. Die polizeiliche Überwachung macht alles sichtbar, während sie selbst unsichtbar bleibt. 

Das ist eine Tatsache, die aber lange nicht so wahrgenommen wird. Vielmehr profitiert die Überwachung vom Schwinden der Schamgrenzen, von der Lust gesehen zu werden. Technologisch ist die Kontrolle der Transparenzräume längst der Eigendynamik der technologischen Möglichkeiten gewichen. Schneider schreibt dazu: „Hingegen beruht die Macht des Transparenztraums in unserer Zeit auf dem Potenzial der politischen und theoretischen Vorarbeiten. Dieses Potenzial hat sich mit den Zufallserfindungen aus den elektronischen Geräteparks vervielfacht, aber es ist nicht mehr in unserer Hand.“

Glas ist die materielle Entsprechung der Durchsichtigkeit, anhand der Schneider den Wandel des Transparenztraumes darstellt. Der Crystal Palace, der 1851 auf der Weltausstellung in London gefeiert wird, findet Entsprechungen in Literatur und Philosophie. Man glaubt, Zwänge werden überflüssig, wenn Laster und Moralübertretungen ohne Lüge und Täuschung erfolgen. Charles Fourier vertritt die Utopie, dass allein die Wahrhaftigkeit ein harmonisches Zusammenleben der Menschen gewährleisten könnte. Dostojewski formuliert 1864 in seiner Erzählung „Aus dem Dunkel der Großstadt“ erstmals Skepsis und legt damit den Grundstein für eine über 100 Jahre währende Debatte.

„Sie glauben an ein ewig unzerstörbares kristallenes Bauwerk, das heißt an ein solches, dem man weder heimlich die Zunge herausstrecken noch in der Tasche mit den Fingern eine höhnische Gebärde machen kann. Na, aber ich fürchte dieses Bauwerk vielleicht eben deswegen, weil es von Kristall und ewig unzerstörbar ist, und weil es unmöglich ist, ihm auch nur heimlich die Zunge herauszustrecken.“

Während die Literatur mit Dostojewski so bereits Zweifel an der Heilwirkung der Durchsichtigkeit angemeldet hat, ist bei Freud als Vertreter der Wissenschaft, der Transparenztraum noch ungebrochen. „Die Psychoanalyse lässt hier eine Technik Wunder tun, die durch opake Worte, Träume und neurotische Symptome hindurch das verworfene Spiel der Liebe lesbar macht. Trotz aller Vorsicht, die Freud auszeichnete, glaube er zuversichtlich, dass eine transparent gemachte Gesellschaft nach und nach ihre neurotische Selbstlähmung ablegen kann.“ Zwölf Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs fragt sich allerdings auch Freud, ob der „menschliche Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb“ überhaupt noch zu beherrschen ist.

Nach und nach verwandelt sich der Traum in Schrecken.

Beim Nachvollzug der Entwicklung des Transparenztraums wird immer wieder die Hellsichtigkeit der Kunst deutlich. Die Tatsache, dass Schriftsteller, Maler und andere Künstler das Bevorstehende einen Moment, bevor es Wirklichkeit wird, vorausspüren.

Mittlerweile ist der Transparenztraum von der Wissenschaft enteignet worden und zu etwas geworden, das nicht länger nach Moral fragt. Über die vermeintlichen Fortschritte der Hirnforschung in den letzten Jahren schreibt Manfred Schneider: „Die Frage nach der moralischen Begründung einer Forschung, die glaubt, die Gehirne von Verdächtigen so transparent machen zu können, dass man dort künftig ihre Untaten auslesen kann, stellen diese Forscher nicht. Technisch avanciert, sind solche Wissenschaftler intellektuell auf dem Stand der Hirnforschung von 1830.“

Was Schneider mit seinem Gang durch die Entwicklung des Transparenztraumes zuallererst aufdeckt, ist die Tatsache, dass es längst nicht mehr um Wahrheit geht, sondern um Kontrolle und Macht. Auf diese Art ist aus einem lichtdurchfluteten Transparenztraum der Alptraum der totalen Überwachung geworden.

Statt Transparenz zu schaffen, führten die jüngsten Entwicklungen dazu, die Grenzen undurchsichtiger zu machen. Die Grenzen zwischen legitim und illegitim, diejenigen zwischen Freiheit und der für eine demokratische Ordnung notwendigen Einschränkung persönlicher Freiheit, zwischen Geheimnis und Verrat.

„Wenn auf der einen Seite durch kein Recht gedeckte geheimdienstliche Abhörmaßnahmen stattfinden und auf der anderen Seite die Post-Governmental Organizations wie WikiLeaks immer wieder schockierende Dokumente offenlegen, findet eine tiefgreifende Veränderung der demokratischen Institutionen und der traditionellen Formen des politischen Streits statt. Nicht mehr Parlamente und Gerichte öffnen sich zu Arenen der Auseinandersetzung, nicht mehr Zeitung, Hörfunk und TV sind die Foren, in denen sich Staat und Gesellschaft kritischer Beobachtung aussetzen. An ihre Stelle treten unkontrolliert operierende Medienverbünde staatlicher und privater Ordnungsmächte, die ihre Daten und Erkenntnisse auf kaum durchschaubare Weise generieren.“

Wo alles hell erleuchtet wird, fallen Schatten. Schneider hat die Geschichte eines Traumes erzählt, von dem wir heute in erster Linie den Schatten wahrnehmen. Er hat mit seinem Buch aufgezeigt, dass die Menschen vielleicht von Anfang an diesem Missverständnis aufgesessen sind, dass sehen noch lange nicht erkennen bedeutet. 

Manfred Schneider
Transparenztraum
Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche
Mit zahlreichen Abbildungen
Matthes & Seitz
2013 · 176 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-88221-082-8

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