„Es ist mein letztes Buch“
Wenn der vorliegende Band des kürzlich neunzig Jahre alt gewordenen Dichters Tuvia Rübner wirklich sein letzter sein sollte, wie er selbst in einer kleinen Nachbemerkung ankündigt, dann handelt es sich um den würdigen Abschluß eines Lebenswerks, den ‚Schwanengesang’ zu nennen sich traditionellerweise anbietet, zugleich aber auch wieder verbietet, denn die Schönheit einer irgendwie gearteten jenseitigen Verklärung fehlt hier allemal. Dennoch handelt es sich um weitausgreifende rhapsodische Gesänge, die nichts mehr beweisen müssen; in meist langen, prosanahen Zeilen schweifen die Gedanken umher, kaum gebunden an formale Zwänge, ein gelassenes Sprechen des Alters, das nicht darum buhlt, auf der Höhe der Modernität zu stehen, das aber auch nicht veraltet wirkt, eher zeitlos, gültig, hellwach. Hier spricht einer frei in den Raum der ihm verbleibenden Zeit hinein, unverstellt und sich seiner tiefen Trauer nicht schämend.
Dem 1924 in Preßburg/Bratislava als Kurt Tobias Rübner geborenen Tuvia Rübner gelang es 1941, ohne seine Eltern und seine Schwester, die in ein polnisches KZ deportiert wurden, mit einer Gruppe Jugendlicher nach Palästina zu entfliehen. Im Kibbuz Merchawia, wo er noch heute lebt, arbeitete er zunächst als Schafhirte, im Weinberg und auf dem Feld. Nach einem Busunglück im Jahr 1949, bei dem seine erste Frau starb, wurde Rübner so schwer verletzt, daß er keiner körperlichen Arbeit mehr nachgehen konnte. Er wurde deshalb zunächst Bibliothekar, dann Lehrer am Lehrerseminar, und lehrte schließlich bis zu seiner Emeritierung 1992 an der Universität Haifa Vergleichende Literaturwissenschaft. Seit 1953 verfaßte er seine Gedichte in Ivrit, gefördert von Werner Kraft und Ludwig Strauß (dessen Werk er später in einer vierbändigen Ausgabe edierte); erst nach seiner Emeritierung schrieb er wieder in deutscher Sprache und übersetzte auch verstärkt ins Deutsche, u.a. Dan Pagis und Anton Pincas. Die kleinen Probleme und Irritationen, die der Wechsel der Gedichtsprache mit sich bringt, hat Frank Schablewski in seinem schönen Nachwort auf sympathische Weise veranschaulicht.
Es sind die beiden großen menschlichen Empfindungen, die Freude und die Trauer, denen Rübner einen unnachahmlichen Ausdruck verleiht. Die Souveränität des Alters erlaubt es ihm, geradeheraus zu sprechen, und so sind die Gedichte mal unbändig lebensbejahend — „Es ist ein Vergnügen zu leben“, „Viele Glückssplitter sind zwischen den Falten des Daseins verborgen“ —, und mal von erdrückender Schwere des Daseins geprägt. Gelassen und abgeklärt ist nur die Art des Sprechens, nicht die Rede selbst — tatsächlich bietet es sich an, bei Rübners Gedichten in diesem Bild zu bleiben, denn sie sind alles andere als hermetisch, sondern höchst kommunikativ, sie sprechen zu sich selber ebenso wie, im besten Buberschen Sinne, zu einem Gegenüber-Du. Das verleiht den Gedichten ungeheuren Charme, sie bleiben stets auf einer faßlichen Ebene, immer nah an den Dingen, am Alltag, nie gekünstelt oder durchgestylt. Freilich haben die Umstände Tuvia Rübner zum Zeitzeugen gemacht, dessen Stimme gehört werden sollte, aber die wahre Größe der Gedichte besteht in ihrer tiefen Menschenfreundlichkeit, die darum ringt, sich mit dem Unvollkommenen auszusöhnen.
Im engen Familienkreis tragen Urenkel und Urenkelin zur gegenwärtigen Freude bei; der verstorbenen Weggefährten und Vorfahren wird dagegen mit schmerzhafter Erinnerung gedacht — „Ich mag sie nicht, / aber sie mag mich. / Ich versuche ihr auszuweichen, / sie kommt aus den Büschen und läuft mir nach“, beklagt Rübner in einem Gedicht, das so typisch für seinen Stil ist, der eine still zurückhaltende Heiterkeit zuweilen selbst dort findet, wo der Boden mit Falltüren und Stricken übersät ist. In bewegenden, lebendurchbebten Versen spricht Rübner über seine Angehörigen. Über die deportierte Familie: „Ein jeder und jedes hat einen Namen. / Der Name der Asche ist Asche.“ Über den in Südamerika verschollenen Sohn: „Wohin mit all der Liebe in deinen Briefen? / Mit den hohlen Schatten neben mir, mit dieser Leere in mir?“ Über seine erste Frau Ada: „so komm zurück und mach das wieder / wohnbar hier und ich verstünde diesen Tisch / und diesen Stuhl, was soll er, / so leer, so sinnlos leer.“ Die Tragik des Lebens hat Rübner nicht verbittert, beispielsweise folgt auf ein düsteres Gedicht über die Naziherrschaft — „In zwölf Jahren wurde die Welt umgestülpt“ — unmittelbar eine nach Leben japsende Hymne, die in ihrer Einfachheit unendlich schön ist:
Atmen ja atmen
aus voller Brust, aus vollem Herzen
Luft die Luft ist
durchsichtig
durchstrichen von
Vogelschatten
Luft
sichtbare Luft
atmen und sehen
durch sie hindurch
o ja
nicht mehr
diese andere
stickige
voller Abschied
Noch am Schluß ruft der Autor: „Ich will nicht Abschied nehmen. Grüß’ euch, ihr, die ihr nach mir kommt.“ Mit dieser alten Geste, die eines Walt Whitman würdig ist, endet der vorletzte Text, und ein wenig resignierter, doch gefaßt, konstatiert das abschließende Gedicht des Buches: „Es ist spät. Zeit, Abschied zu nehmen. / Es scheint so. / Aber das Dunkel. / Können wir denn wählen?“ Die Antwort ist natürlich das unvermeidliche Nein der Endgültigkeit. Was aber bleibt, sind mehrere lieferbare Bände im Rimbaud Verlag, so daß die Lektüre mit diesem letzten Werk — wenn es das tatsächlich sein sollte — nicht aufhören muß. Denn Tuvia Rübner ist ein Autor, der nicht sang-, klang- und spurlos aus dem Gedächtnis sei es der hebräischen, sei es der deutschen Lyrik verschwindet, die durch ihn mit so vielen Verbindungspunkten gesegnet wurde.
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