Wahlverwandtschaften mit Kunstgriff
Nach Unter uns legt die Grazer Autorin Angelika Reitzer mit Wir Erben einen weiteren, sensibel und außerordentlich scharf beobachteten Familienroman vor. Zwischen zwei fremden Welten führt sie darin Frauenfiguren mit völlig unterschiedlichen Lebensentwürfen zusammen.
Mittlerweile im feinen Salzburger Jung und Jung Verlag zu Hause, bleibt sich Angelika Reitzer erst einmal treu: Auch Wir Erben handelt von verschlungenen Familienwegen, rauschenden Festen und bitteren Auseinandersetzungen. Aber wo in Unter uns noch die Orientierungslosigkeit einer unselbstständigen Mittdreißiger-Generation derjenigen der Sicherheit bietenden, soliden Elterngeneration hart gegenübergestellt wurde, ist nun auch das Personal zusammen mit seiner Autorin gereift: Marianne, die erste Hauptfigur in Wir Erben, hat den Betrieb einer Baumschule von ihren Eltern übernommen und steht damit auf eigenen Beinen. Dass es sich gerade um eine Baumschule handelt, die die wirtschaftliche Basis der Familie bildete, deutet auf zweierlei hin: Den Familien-Stammbaum als eine Angelegenheit, die gehegt und gepflegt werden muss. Natürlich hat diese Baumschule aber auch ein berühmtes Vorbild in der Form der Baumschule, die Eduard zum Beginn von Goethes Alterswerk Die Wahlverwandtschaften durchschreitet.
Ähnlich verschlungen und willkürlich wie in diesem Spätwerk der Weimarer Klassik stellen sich die persönlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen der Figuren bei Angelika Reitzer nun dar: Marianne hat einen Sohn, mehrere Ex-Männer, nach dem Tod der Großmutter, mit dem der Roman einsetzt, kommt es zu langwierigen Auseinandersetzungen zwischen Familienmitgliedern, ehemaligen und neuen Partnern, die unangemeldet in Mariannes Leben auftauchen. Mehr und mehr entsteht der Eindruck, dass Marianne ein Fixpunkt, etwa für ihren Sohn Lukas, aber auch auf gewisse Weise in ihrem Leben gefangen ist: Sie hat mit einer wilden Vergangenheit abgeschlossen und ist nun diejenige, die den Betrieb aufrechterhalten muss. Diesen Eindruck der Gefangenheit verstärkt Angelika Reitzer durch eine emotional unbeteiligte Erzählweise, die keine großen Wellen schlägt; vielmehr folgt, wie in Friederike Mayröckers Bonmot, in Mariannes Leben „ein Tag dem anderen ohne dasz die Grundfragen des Lebens gelöst worden wären.“ Form und Handlung sind stark verschränkt; Reitzer behält durchgängig den Fokus auf die Hauptfigur Marianne und ihre Geschichte; wenn es um die zahlreichen Familienmitglieder geht, die gern nur mit Vornamen benannt werden, gerät es jedoch mitunter zur Schwierigkeit, dem Faden der Erzählung zu folgen.
Doch ist an dieser Stelle noch nicht einmal annähernd die ganze Geschichte von Wir Erben erzählt, entscheidet sich Angelika Reitzer doch ab der Hälfte zu einem auf den ersten Blick etwas waghalsigen Kunstgriff, indem sie der Geschichte von Marianne und ihrem Familienbetrieb noch eine zweite gegenüberstellt, die in mehrerlei Hinsicht einen totalen Kontrapunkt zum bisher Dagewesenen bildet: Es ist die von Wilhelm, Hedwig und ihren Kindern Siri und Gina, und diese zweite Geschichte schlägt einen weiten Bogen bis in die DDR, nach Ostberlin, schließlich in den Kölner Stadtteil Zollstock, wo diese so ganz und gar andere Familie sich nach ihrer Flucht eine neue Existenz aufgebaut hat. Über das bedrückende Leben im real existierenden Sozialismus, die späte Flucht (die tatsächlich kurz vor dem Mauerfall stattfindet) und das schwierige Ankommen in der neuen Welt erzählt Angelika Reitzer ebenso detailliert und protokollarisch wie über die Familienzerwürfnisse von Marianne. Natürlich wird der Faden der ersten Erzählung dann auch wieder aufgegriffen, als sich Marianne und Siri unvermittelt begegnen – und so zwei ganz unterschiedliche Lebensentwürfe aufeinander prallen, was ganz offenbar dem Plan der Autorin für diesen Roman entspricht.
Kurz gesagt: Der Plan geht auf. Wir Erben ist – das kann besten Gewissens festgehalten werden – ein sehr kluger und ruhig durcherzählter, nicht ins Quasselnde verfallender Roman. Stellenweise, mit besonderer Berücksichtigung der DDR-Geschichte, kann Angelika Reitzers protokollartiger Stil sich sogar mit einem großen Chronisten der deutschen Geschichte, Christoph Hein, messen lassen, dessen Roman Frau Paula Trousseau, erschienen 2007, die Geschichte einer Frau von den fünfziger Jahren bis in die Gegenwart erzählt und gewiss Vorbildcharakter für die Geschichte von Siri hat.
Freilich könnte ein leichtfertiger Vorwurf an Romane wie diese lauten, dass über einen gleichbleibend lakonischen Tonfall, der kaum wertet, sondern Alltägliches und Katastrophen, Glücks- und Schreckensmomente auf dieselbe, trockene Art und Weise heruntererzählt, selbst eine gewisse emotionale Unbeteiligtheit am eigenen Romanstoff verrät. Andererseits hält die stoische Ruhe und Beharrlichkeit im Fall von Angelika Reitzer auch zwei stark auseinanderstrebende Erzählstränge zusammen, was für die konzeptionelle Durchdachtheit und den souveränen Umgang mit literarischen Kunstgriffen spricht. Das macht Wir Erben dann in der Tat auch nicht nur zu einem interessanten Roman, sondern zu einem ausgewogenen und sehr kunstfertigen Stück Literatur.
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