Die Rückkehr des Politischen
Mit der Theorie der Fotografie ist es nicht anders als mit anderen Theorien des Symbolischen: Sie hat die Gewissheit aufgegeben, dass es eine Wahrnehmung der Wirklichkeit jenseits des Symbolischen geben kann. Sie agiert damit wie jede Form des radikalen Konstruktivismus vollständig auf der Symbolebene, was zu der paradoxen Situation führt, dass wir uns völlig ohne Gewissheiten über die Wirklichkeit verständigen müssen. Das ist insofern ein Skandalon, weil wir nicht wirklich an der Realität zweifeln wollen und können, wollen wir handlungsfähig bleiben. Für einen politisch denkenden Menschen ist zudem die gesellschaftliche Realität selbst nicht wirklich diskutabel, selbst wenn es um ihre Beschreibung heftigen Streit geben mag. Die Realität gilt als gesetzt, und an diesem Status kann nicht gerüttelt werden, wenn nicht die Relevanz politischen Handelns zur Disposition gestellt werden soll.
Warum dies an dieser Stelle? Helmut Lethen ist wohl einer der wichtigsten Repräsentanten der ideologiekritischen und damit politischen Literaturwissenschaft der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Vor 1970 war er einige Jahre Redakteur der Zeitschrift „alternative“, seine Studie zur Neuen Sachlichkeit gehört zu den Standardwerken einer kritischen Literaturwissenschaft, die auch politischen Anspruch hatte, und hatte einen über zwei Jahrzehnte reichenden Einfluss auf die Wahrnehmung neusachlicher Autoren. Lethen war in den frühen 1970er Jahren Assistent am germanischen Seminar der FU Berlin – also in jenen politisierten Jahren, in denen das Institut in zahlreiche politische (linke) Fraktionen zerfiel. Lethens Radikalität verhinderte wohl eine bundesdeutsche Karriere, weshalb er 1977 in die Niederlande auswich, wo er bis 1996 lehrte. Hier machte er auch jene Entwicklung durch, die ihn zu den „Verhaltenslehren der Kälte“ führte, also erneut zu einer Studie zu Autoren der Neuen Sachlichkeit, die ihn wieder mitten zurück ins intellektuelle Leben der Republik brachte. Auch dieses Buch wurde zur Referenzgröße, und noch diese Studie wies ihn als politisch denkenden Forscher aus. Die Parteinahme aber war geschwunden und politische Überzeugung nahezu unsichtbar.
Nun, nochmals (fast) zwanzig Jahre später, will es Lethen wieder wissen, nicht weniger grundsätzlich als in seinem ersten großen Buch (seiner Dissertation), aber mit einem anderen Zugriff. Lethen bleibt politisch, und er verteidigt das Politische an einem Gegenstand, an dem sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur die Medienkritik entzündete, sondern auch die symbolische Wahrnehmung selbst diskutiert wurde, die Fotografie.
Spätestens mit Vilem Flussers Kritik ist das Verhältnis der Medien zur Realität skandalisiert worden. Eine Gesellschaft, so die Kurzfassung zu Flusser, die sich der Medien bedient, um sich über Realität zu verständigen, liefert sich den Medienmachern und deren Zurichtungsverfahren aus. Die Konsequenz ist damit klar vorgezeichnet: Medien müssen kontrolliert werden und kontrolliert eingesetzt werden. Und sie müssen mit der Realität abgeglichen werden.
Die konstruktivistische Kritik geht jedoch weiter, wenn sie jede Wahrnehmung als Konstruktion versteht, die nur bedingt Aufschluss über die zugrunde liegende Realität geben kann. In der Systemtheorie ist Wahrnehmung deshalb als Systemveränderung beschrieben worden, die ihren Wahrheitsgehalt an ihrem Erfolg misst. Sie reagiert also nicht (nimmt wahr), sondern agiert (konstruiert).
Wahrnehmung geht also auf der pragmatischen Ebene davon aus, dass Realität existiert, und zwar mehr oder weniger genauso, wie wir über sie reden. Aber Gewissheit kann es darüber nicht geben, weil Wahrnehmung sich – genau besehen – nur auf eine Konstruktion beziehen kann.
Unsere Realität wird also aus lauter Bildern zusammengesetzt, die einen mehr oder weniger konsistenten Eindruck abgeben, und das ist schon mehr als man verlangen kann.
Für Fotografie ist das insofern misslich, weil sie sehr früh als Abbild von Wirklichkeit verstanden worden ist. Sie gibt – wenngleich auf einer Fläche und damit um eine Dimension reduziert – nur das wieder, was vor der Linse gewesen ist. Sie ist also objektiv, was ja zur Metapher des Kameraauges geronnen ist, die in den 1920er Jahren Konjunktur hatte. Wenn dieses technische Bild nun selbst als Konstruktion beschrieben wird, geht ihm die Objektivität verloren, der Kontakt mit dem Wirklichen dazu.
Dies ist misslich, allerdings aus radikal konstruktivistischer Sicht heraus nicht misslicher als bei anderen Gegenständen der Objektwelt, die ja gleichfalls aus der Sicht des Subjekts wahrgenommen werden müssen. Und ob man ein Auto oder eine Fotografie wahrnimmt, macht keinen Unterschied. Beides sind Gegenstände, nur die Fotografie unterscheidet sich vom Auto dadurch, dass sie selbst wiederum Gegenstände abzubilden vorgibt, was ein Auto nicht tut.
Fotografie ist also eine Wahrnehmung zweiter Ordnung, und auch für sie gilt, dass ihr konstruktiver Charakter nicht hintergangen werden kann. Das sagt allerdings nichts über die Wirklichkeit aus, sondern nur darüber, wie wir die Wirklichkeit sehen und verstehen. Aber damit geraten wir an eine neuralgische Stelle: Wo bleibt die Wirklichkeit? Wo das Authentische? Anscheinend ist ohne das nicht wirklich gut zu leben und vor allem politisch zu streiten.
Roland Barthes hat beides wieder aufzusuchen versucht, indem er die Spuren des Authentischen in der chemischen Reaktion des Fotopapiers aufgefunden hat. Lethen ist klug genug, das zu dementieren. Aber er lässt sich doch vom Authentischen anspringen, er verweist auf die Sehnsucht nach dem Authentischen, das gerade dazu zu entspringen scheint, wo die Gewissheit am größten ist, dass Wahrnehmung dem symbolischen Kosmos nie entfliehen kann.
Bleiben wir auf der ontologischen Ebene, auf der sich auch die Fotografie bewegt, dann bewegen wir uns nicht sehr weit von Flusser weg. Alle Medien - und zu ihnen gehören Fotografien - beziehen sich auf Realität. Wenn sie sie unzulässig modifizieren (und präziser geht’s nun einmal nicht), dann müssen sie korrigiert werden. Um sie angemessen verstehen zu können, müssen sie kontextualisiert werden. Philologisch saubere Arbeit ist also geboten.
Gerade jenes Beispiel, das den Umschlag von Lethens Essay schmückt, zeigt dies besonders gut: eine Frau, die in einer anscheinend sommerlichen Atmosphäre durch einen Fluss stakt, den Rock gerafft – ist eine Gefangene, die von deutschen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs als Minensucherin eingesetzt wird. Das Idyll verwandelt sich unter der Hand ins Grauen. Die Präsentation eines solchen Fotos in einer Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht macht es auch heute noch zum Politikum.
Ähnliches ist auch zu anderen Exempeln zu sagen, die Lethen beibringt. Allerdings rettet das seinen Essay nicht vor der melancholischen Resignation, dass das Authentische und die Wirklichkeit am Ende nie erreicht werden können. Auch das Foto der Frau im Fluss reiht sich in die mediale Wirklichkeit nahtlos ein, über die – in diesem Fall – politisch diskutiert werden muss.
Mithin lässt sich Lethens Diskussion der Bilder und ihrer Wirklichkeit auf ein Plädoyer konzentrieren, sie immerhin angemessen wahrzunehmen und zu verstehen. Was jeweils angemessen ist, darüber muss gestritten werden, denn das Bild einer Gesellschaft, das mit solchen Diskussionen skizziert wird, ist für ihr Selbstverständnis zentral. Es ist mithin veränder- und beeinflussbar, aber eben nicht bedingungslos. Denn auch wenn Wirklichkeit nicht unmittelbar erkannt werden kann (was ein Widerspruch in sich wäre), lässt sie sich nicht wahllos darstellen. Die Darstellung muss angemessen sein, sonst entspricht es nicht den korrespondierenden Bildern und Elementen. Wir bewegen uns in einer sich frei drehenden Bedeutungsmaschine, die nur deshalb funktioniert, weil sie funktioniert. Der Schrecken wird nicht kleiner, nur weil wir ihm in Bildern und Geschichten begegnen. Auch nicht das Erschrecken.
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