Brief aus Chemnitz [23]
Madame Schoscha lebt jetzt schon eine Weile in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli, weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, worüber sie sich gegenseitig berichten. Sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der sich mehrfach im Jahr an wechselnden Orten zusammenfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag. Aktuell ist ihr Kontakt merklich abgeflaut. Darum ist es gut wenn sich hin und wieder auch alte Weggefährten zu Wort melden. In diesem Monat ist es erstmalig ein Thomas Reger aus Chemnitz, von dem Altobelli viele Jahre nichts mehr gehört hatte.
Altobelli,
vor zwei Tagen kam meine Arbeit an eine Stelle in Zettels Traum, die ich letzten Endes dafür verantwortlich mache, dass ich Ihnen wieder einmal schreibe. Nämlich: „(zwa’n schwarzer=eintailliger; aber gefüllt mit ner hippschn Frau’nFigur : Ich bin für’n gepflégtn Dâmm : den >Perser< unter’n Ø=Haar’n...))“ Es muss einen Kurzschluss in meinem Kopf gegeben haben, da ich in den letzten Monaten in der Zeitung (ich lese sie nur noch alle vierzehn Tage) immer wieder über den Ausdruck hip gestolpert bin. Eine Ahnung, dass er immer noch das gleiche bedeutet wie früher und dass er nichts mehr von der Bedeutung an sich hat, die er früher führte. Früher war er mir bereits suspekt; jetzt wohl noch suspekter, weil ich kein Bild mehr dazu habe. Unheimlich (aber zuviel Freud im Schmidt!). Dieses Gefälle macht wohl die Stimmung der Ahnung. Vielleicht kann dir Altobelli erklären, was es auf sich hat, das ist mir durch den Kopf geschossen, ich erwähne es der Vollständigkeit halber, denn im Grunde halte ich es jetzt schon für lächerlich, Sie tatsächlich zu einer solchen Erklärung aufzufordern. Es wäre nicht genug gewesen und ich hätte Ihnen natürlich nicht geschrieben. Auf der gleichen Seite in ZT steht aber auch: „Denn jene Dame wand den veil von ihren Reizn, und schrittlte ans Wasser vor“. Sie sehen, ich gehe inzwischen schon ausgesprochen frei mit meinem Text um. Diese Dame ließ mich unwillkürlich an Ihre Seminararbeit über Andrew Marvell denken. Auch hier weiß ich nicht warum. Ich weiß ja nicht mal, ob Sie sich noch an diese Arbeit erinnern, sie war, wie ich Ihnen schon damals sagte, durchaus nicht bemerkenswert; aber sie zeigte doch eine gewisse Affizierbarkeit durch Literatur, an deren Existenz zu glauben man überhaupt aufhört, noch bevor man an Universitäten unterrichtet – dazu genügt es schon, wenn man, wie ich es ja damals tat, für ein Linsengericht (wie Mahler sagt) die Seminararbeiten etwas jüngerer Kommilitonen korrekturliest. Und dann erst die Lehre! Ich hätte mich sofort davon abwenden sollen, wie auch Sie gut daran getan haben, sich recht rasch von Marvell abzuwenden. Entkommen bin ich inzwischen, das wissen Sie natürlich, aber noch immer mehr, vielleicht auch zum Besseren, das steht zu vermuten. Ich musste (seltsam!) auch an eine große Stadt denken, wie die, in der Sie immer noch leben. Ist es denn tatsächlich erträglich? Das müssen Sie mit sich ausmachen, ich könnte es nicht, der Konzentration ist es abträglich, meine Arbeit besteht in nichts als Konzentration.
Illustration: Felix Pestemer
Es dauert, aber es ist gut. Sie werden ja aus der oberen Stelle nachsehen könne, wo ich inzwischen stehe, wenn Sie es wissen wollen, ansonsten aber tut es nichts zur Sache. Seit zwölfeinhalb Jahren sitze ich nun an der Übersetzung, seit knapp vier glaube ich auch, dass die Zeit ganz gut angelegt ist. Was sollte man sonst tun. Inzwischen glaube ich auch, das Französische weich genug geklopft zu haben, geschmeidig genug, um Arno Schmidt zuzulassen, es sich möglich werden zu lassen. Als Geschehnis. Es ist nach wie vor der absurdeste Moment in meinem Gedächtnis, wie ich plötzlich in Paris sitze und da ist ein Verleger, der das Buch nie ganz gelesen hat, und er unterschreibt einen Vertrag mit einem Übersetzer, der das Buch nie ganz gelesen hat, und niemand weiß, wie lang die Übersetzung dauern wird. Und wenn es also nur ein Denkmal dieser Situation werden wird, gut, wer kann das schon behaupten. Inzwischen, ja. Lange Dauer. Für die Dauer einer anderweitigen Dissertation Lektüre nur von Lektüren, die in der Lektüre auftauchen, nun ist das System widerstandsfähig, ist überhaupt System. Die Rituale sind ganz literarisch, der Tag in den Buchstaben. Vor dreieinhalb Jahren ist der Verleger übrigens abgesprungen, aber ich wüsste nicht, wie man an meiner Übersetzung vorbeikommen sollte, wenn sie einmal vorliegt. Also/Aber dennoch, die hippsche Frauenfigur hat etwas in mir bewegt, aus dem Wort heraus. Hat mir das Bedürfnis wachsen lassen, einmal wieder nachzusehen, wie das aussieht. Hip. Gott behüte, dass das Einfluss auf meine Arbeit haben soll! Machen Sie sich keine Sorgen. Die Stelle ist inzwischen schon fertig und wird nun ein paar Jahre nicht mehr angerührt (fragen Sie nicht, ist Teil des Systems). Aber sehen will ich es, wie sich das bewegt. Die Entschlusskraft ist doch erstaunlich: Vielleicht gehe ich einmal wieder auf eine Lesung von jungen Dichtern. In der Zeitung stand, dass das Publikum dort hip sei. Stimmt das, Ihrer Meinung nach? Wie soll ich das anfangen? Wie ist diese Dichtung und müsste ich da meine Neugier zu teuer bezahlen? Ob es Ihnen gut geht, die Frage gehört natürlich in einen Brief, ob man will oder nicht. Ich habe gerade nachgeschlagen, Ihr letzter Brief kam vor sieben Jahren. Aber tun Sie sich keinen Zwang an, Sie müssen dazu nichts sagen. Ich jedenfalls täte es lieber nicht. Lieber zur Sache. Meine Adresse ist immer noch die gleiche (bitte kein Aufheben).
Reger
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