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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Psst. Nichts sagen.

Das erste Buch der Finnin auf Deutsch ist ein Reigen verweigerten Sprechens
Hamburg

Wenn ich an Finnland denke, dann sehe ich Licht. Das intensive Licht der tief stehenden Wintersonne, bevor es lange dunkel wird, die scheinbar endlose Dämmerung der Mittsommernacht. Noch nie war ich dort. Doch so stell ich mir das irgendwie vor. Und ich freue mich, dies in den Kurzgeschichten der Finnin Raija Siekkinen wieder zu finden. Wenn es auch eine Herausforderung ist, dieses - wie erwartet melancholische Buch - im trüben Monat November zu lesen.

Eigentlich immer gibt es einen Mann, einen Partner, manchmal alte Eltern, die sprachlos über ihr Leben protestieren. Kinder gibt es nicht. Nur einmal wird über ein Kind nachgedacht, wie es hätte werden können. Die Partner scheinen weit entfernt. „Sollen wir nicht doch heiraten?“ fragt Ari Anna in der Erzählung „Der letzte Sommertag“. Anna schaut den im Meer schwimmenden Menschen zu, die einen Felsen im Wasser anstreben. „Alle wollen hin - niemand schafft es.“ Die beiden machen sich auch auf den Weg zum Felsen. Ari hatte gefragt: „Sollen wir nun oder sollen wir nicht?“. Und Anna dachte: „heiraten oder schwimmen gehen“, und antwortete ja. So genau ungenau findet Raija Siekkinen die rechten Worte für diese Beziehung, von der wir sonst nichts erfahren.

In der Titelerzählung wird Tanja am Morgen vom Radiowecker mit dem Schlager geweckt: „Wie Liebe entsteht“. In einer Gegenbewegung wird jedoch vom Ende der Liebe zu ihrem Mann, der fremdgegangen ist, erzählt. Am Drehpunkt der Gegenbewegung stellt sie in der Telefonzentrale, in der sie arbeitet, das Gespräch eines Mannes zu seiner Frau durch, obwohl diese es extra verboten hatte; die Gespräche des Mannes wurden für gewöhnlich in den Heizungskeller verlegt. Gebannt schaut Tanja zu, wie die Lichtanzeige leuchtet, die zeigt, dass die Verbindung gehalten wird. „Wer weiß am Ende schon, was Gewinn ist und was Verlust“, denkt sie. Am Abend sagt ihr Mann im Keller, wo sich die Sauna befindet, zu ihr: „Ich liebe dich“ - und sie schaut einer Seifenblase zu, wie sie zitternd im Abfluss verschwindet.

Überall lauert ein Verstummen „und noch etwas, das sich nicht benennen ließ“. Oft schaut sich die Protagonistin im Spiegel an, versucht ihre Worte zu erraten oder nur das eine undefinierbare, „um das sich das restliche Leben drehen wird“. Ein Paar trifft sich mit einem anderen Paar zum Erzählen, zum Trinken, zum Streiten. Sie: „der ganze Streit rührt daher, dass wir einfach nicht reden!“ Er: „Nein, wir reden viel zu viel.“ Diese Erzählung heißt „Liebe“ - und wieder typisch für die Finnin, es werden Varianten durchgespielt, was alles Liebe nicht ist. Einzig von ihrem Mann, der gesagt hat, „wir reden viel zu viel“, denkt die Ich-Erzählerin: ein gefährlicher Mensch. Und wenn er schon schläft, legt sie sich zu ihm und denkt Dinge „die ich sonst nie denken konnte“. In solchen Passagen versteckt sich eine große Zärtlichkeit, die wortlos geschieht. Zwischen all diesen Trennungen, Betrugen, Enttäuschungen sitzt sie plötzlich, wie ein Falter in einer Stofffalte. In all das, was sich Leben nennt - es muss gar nicht beschrieben werden -, scheint das nordische Licht: „eines Tages sah das Tageslicht auf den Fliesen genauso aus wie der ruhige und doch berauschende Glanz der ersten Frühlingssonne auf alten Holzdielen, wenn draußen die Schneeschmelze einsetzt“.

In „Der Mond“ verlässt die Protagonistin morgens um drei das Haus, um dem bestellten Taxi entgegen zu gehen, das aber nicht kommt. Ein weiter Weg liegt vor ihr, sie wünscht sich, er wäre noch weiter und dass die Nacht nie endete und sie „nie wieder Leute reden hören würde“. Auch der Taxifahrer, der ihr schließlich doch noch entgegen kommt, wählt extra die Frühschicht, weil da die Kunden nicht reden. Und er fährt langsamer, öffnet das Fenster, um ihr den Mond zu zeigen. Sie denkt an das Bett, in das sie sich gleich legen wird und dass sie von dem Mann in ihrem Bett „umso weniger wusste, je mehr sie miteinander redeten“. Früher war das anders gewesen: Mit einem „Psst. Nichts sagen“ hatte er auf ihren Kopf seine Hand gelegt, aus der eine „warme schlaffördernde Kraft zu fließen schien“.

Es ist das erste Buch von Raija Siekkinen, das in Deutschland erscheint. Sie ist in Finnland vor allem mit Kurzgeschichten bekannt geworden. Auch die bereits 1991 in Finnland veröffentlichten zehn Texte in „Wie Liebe entsteht“ sind eigentlich Kurzgeschichten. Aber diese Gattungsbezeichnung scheint im Deutschen so verloren zu sein wie die Verfasser von Kurzgeschichten. Wenn überhaupt kurze Geschichten in einem Band erscheinen, müssen sie schon Stories heißen. Umso schöner, dass über das offizielle Ereignis Frankfurter Buchmesse und der Tradition Gastland - in diesem Jahr Finnland - der Fokus auf die Literatur eines Landes gerichtet wird und Perlen gefunden werden können, wie in diesem Fall. Auch, wenn sie im Deutschen als Erzählungen ausgegeben werden. Die Übersetzung von Elina Kritzokat ist sensibel, sie macht diese Feier, diesen Reigen der Sprachlosigkeit oder besser des verweigerten Sprechens für mich verständlich und nachvollziehbar. Es ist das erste Buch in meinen Händen, auf dessen Cover der Name der Übersetzerin erscheint! Auch der des Verfassers des enttäuschend belanglosen Nachworts David Wagner. Der Schweizer Dörlemann-Verlag hat ein liebesvolles in blaues Leinen gebundenes Bändchen erstellt mit einem Vorsatzpapier, das man sich stundenlang anschauen möchte. Zum Schluss noch eine Novembernachricht: Raija Siekkinen verbrannte im Alter von 51 Jahren in ihrem Schlafzimmer, wie die von ihr verehrte Ingeborg Bachmann.

Raija Siekkinen
Wie Liebe entsteht
Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Mit einem Nachwort von David Wagner
Dörlemann
2014 · 176 Seiten · 16,90 Euro
ISBN:
9783038200086

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