Die frühen Stories
Nicht erst seit dem Tod des größten literarischen Phantoms des 20. Jahrhunderts wird über den Nachlass J. D. Salingers heftig spekuliert. Bereits zu seinen Lebzeiten gingen die Meinungen von Literaturkritik und -wissenschaft über Umfang und Qualität möglicher unveröffentlichter Werke des Amerikaners weit auseinander. Salingers letzte Publikation, die short story Hapworth 16, 1924, die 1965 in The New Yorker erschien, wurde seinerzeit fast ausschließlich negativ bewertet. Dass Salinger jedoch bis zuletzt weiterschrieb, scheint sicher zu sein. Doch die Hoffnungen auf eine schnelle Veröffentlichung der kolportierten sieben bis fünfzehn Bücher aus Salingers Schubladen wurden enttäuscht. Auch fünf Jahre nach seinem Tod bleibt der Nachlass des erfolgreichen Schriftstellers ein großes Geheimnis.
Trotzdem hält der Buchmarkt in diesem Frühjahr etwas für Salinger-Fans bereit. Es ist der schmale Band Die jungen Leute, der drei frühe Stories zusammenfasst, die bereits 1940 bzw. 1944 in Zeitschriften abgedruckt erschienen. Obwohl in diesen Texten Salingers frühes Talent für die viel gerühmte Charakterzeichnung per Dialog und das Entlarven sozialer Rollen und Maskeraden durchscheint, sind die Texte doch alles in allem noch recht nichtssagend. So kreisen die Titelstory und die zweite Geschichte Geh zu Eddie um kleine Ränkespielchen, deren intrigantes Potential sich allenfalls erahnen lässt. Wesentlich substantieller geht es da schon in der „späteren“ Story Einmal die Woche bringt dich schon nicht um zu. Hier verabschiedet sich ein junger Soldat, der in den Krieg nach Europa einberufen wurde, von seiner Frau und seiner Tante, die offenbar an einer psychischen Krankheit leidet. Hier kommen vielschichtigere Elemente zum Tragen als nur der Klatsch und Tratsch zwischen Collegestudenten. Auf einmal geht es um soziale Verantwortung, Traumata und den Tod, wobei die Tante, die einen Verlust aus dem Ersten Weltkrieg nicht verwinden konnte, zu einer fast schon prophetischen Figur für Salingers Biografie wird.
Mit etwas Bauchschmerzen denkt man im Hinblick auf Die jungen Leute auch an die zukünftige Vermarktung Salingers. Denn letztlich werden hier zwei unterdurchschnittliche und eine gute Story um ein kurzes Nachwort von Thomas Glavinic und je fünf Seiten Lebensdaten und Verlagswerbung ergänzt, damit man immerhin knapp 80 Seiten für 15,- Euro anbieten kann. Piper folgt damit dem spärlichen Umfang der amerikanischen Originalausgabe von Devault-Graves, die ausgerechnet drei Stories umfasst, die Salinger selbst wohl nicht besonders schätzte. Dabei gäbe es insgesamt 21 zu Lebzeiten verstreut veröffentlichte Stories des Autors wiederzuentdecken, die in umfangreicheren Bänden publiziert sicher mehr Spaß bereiten würden. So könnte man die Entwicklung Salingers zu einem der einflussreichsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts weitaus besser nachvollziehen, als in Die jungen Leute. Schade.
Fixpoetry 2015
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben