Kultursalon Madame Schoscha

Brief aus Chemnitz [25]

Monatliche Kolumne des Kultursalons Madame Schoscha
Chemnitz

Madame Schoscha lebt jetzt schon eine Weile in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli, weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, worüber sie sich gegenseitig berichten. Sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der sich mehrfach im Jahr an wechselnden Orten zusammenfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag. Aktuell ist ihr Kontakt merklich abgeflaut. Darum ist es gut wenn sich hin und wieder auch alte Weggefährten zu Wort melden. In diesem Monat antwortet Thomas Reger aus Chemnitz auf Altobellis Brief im Februar.

 

Altobelli,

wie es sich gehört bedanke ich mich brav für Ihren Brief, wenn ich mir auch nicht sicher bin, ob ich die durchaus spürbare Verzögerung der Antwort, durchaus nicht gedeckt von Kunst und Weisheit, verdient habe. Aber so ist dem wohl im glorreichen Berlin. Verzeihen Sie, ich spare das Papier, ich streiche es durch, was weiß ich denn schon von Ihren Lebensumständen, von dem Stellenwert, den das Schreiben und/als Arbeit für Sie hat, nun, ich streiche es durch, aber lasse es leserlich, beides hat durchaus seine Richtigkeit. Jedenfalls, Altobelli, schade, dass Sie mir nicht zutrauen, in die Stadt zu kommen, um Vorleser, wie auch immer, zu sehen. Das soll nicht untergehen. Zwar bin ich an der Arbeit, wie es sich für einen Buchstabenarbeiter gehört. Ich beginne early, also nicht erst um 5, wenn die Bauern aufstehen, ich vollende ein Tagwerk noch vor dem Frühstück, und ich protestiere nicht, dass meine Woche immer hundert Stunden gehabt hat. (Ich hoffe, Sie sehen den Scherz. Und nun den Scherz gleich beiseite.) Ich habe seit Jahren keine Pause gemacht, ich habe es lange bei mir erwogen, und glaube nun, ein paar Tage freinehmen zu können. Nichts von jenem bürgerlichen „Wochenende“, ich bestimme das selbst. Den Zeitpunkt aber nennen getrost Sie. Nun aber: Sie schrieben von einem theatralischen Akt zu Studienzeiten. Diese Ader scheint sich erhalten zu haben. Mich erstaunt Ihre Haltung zu den Vorfällen der letzten Monate, von denen Sie schrieben und die natürlich auch ich bei herabgesetztem Zeitungskonsum zur Kenntnis genommen habe. Betroffenheit! Wirklich? Dieser eine Anschlag macht sie betroffen? Es hört sich an, als sei es für sie plötzlich geschehen, überraschend. – Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Menschen allein in Paris allein an einem gewöhnlichen Tag ums Leben kommen, wie viele junge Menschen, wie viele durch alltäglich, aber ich traue mich wetten, dass es kaum weniger sind als in jenen Büroräumen und drumherum; gewiss fand jeder sein Leben zu kurz, gewiss gibt es keinen, keinen, Rechenschieber dafür. Der Tod muss abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muss aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter, und der eine Tod ist wie ist wie jeder ein ungeheuerlicher Skandal, gegen den ich protestiere, eine viehische Schweinerei, heißt es ganz richtig. Wird da aber nicht doch gerechnet und das Maß geschoben? Im Staate Dänemark nichts Neues. Gedenkemsigkeit. Genau so, wie Sie über die Presse schrieben: wo man „zusammenrückt“, gibt der Stumpfsinn den Kitt. Und der Zyniker, wo sitzt er? Auf meinem Stuhl? Mag man nun die einen für größere Narren halten als die anderen (das bleibt freilich nicht aus), aber dass die einen abendlandschristlich die andere Wange hinhalten, wie es sich in der Betroffenheit abschattet, das kann man nun wirklich nicht behaupten, es wird ausgeteilt und eingesteckt und ausgeteilt und eingesteckt. War es je anders? Wenn Sie sich eine Technik entwickelt haben, dass nur punktuell und ereignisweise ein Blitz des Schreckens die sonst intakten Scheuklappen durchleuchtet, bitte schreiben Sie es mir, ich möchte das auch. Aber nun glauben Sie ja nicht, ich gäbe hier den Zyniker, glauben Sie nicht, ich fände das nicht schrecklich. Das Schrecknis hat überhaupt keinen Rand; ihm Ebbe und Flut zuzusprechen, grenzt für mich schon an Optimismus. Zeigen Sie mir eine Generation ohne Krieg. Das ist das Chaos, das ist der Leviathan, davon erzählen die Schwarzen Spiegel. Das ist ganz bestimmt nicht nachtwindleise, das ist kein Gegenstand, der affizieren will. Die Erzählung: Nach dem Atomkrieg ist noch ein Mensch übrig; unverhofft nähert sich seiner Einsiedelei noch ein weiterer Mensch; die erste Handlung der beiden letzten Menschen ist es, aufeinander zu schießen; hurra, es sind Männlein und Weiblein, und sie lernen sich doch noch, wenn schon nicht lieben, so doch umarmen. Aber: erst schießen sie aufeinander. Wie wahr. Man könnte sagen, dass sei die Prägung Schmidts durch weltweiten Krieg; aber schauen Sie sich in der Zeit um, mit diesem Prädikat bildet er den Normalfall, nicht die Ausnahme. Ich glaube, Sie habe eine zu hohe Meinung von der Menschheit. Sie schrieben vom Skeptizismus: es hätte seit Jahresbeginn schon genügend Anlass dazu gegeben. Nein. Die Welt ist der Anlass, toujours, oder sie ist es nicht. Ich sage, sie ist es. Soll das heißen, höre ich Sie fragen, dass der Mensch also nunmal schlecht ist? Schlecht? Gehen Sie mir mit solchem Christentum. Das hat mit gut und schlecht nichts zu tun. Sie kennen doch sicher den Satz, gerade vor dem Wohlmeinenden sei Reißaus zu nehmen. Indes verstehe ich nicht genau, wohin Sie Reißaus genommen haben und vor wem. „Die Lyrik hatte Pause.“ Was soll das heißen? Im Namen Arno Schmidts halte ich naturgemäß nichts für besser, aber für dieses Urteil bräuchte ich seinen Namen nicht einmal. Lassen Sie sie in der Pause; lassen Sie sie schon gar nicht in den Bundestag hinein (womit hätte er das, dennoch, verdient?). Am Sprachbewusstsein lässt sich arbeiten, wenn Wolf und Schaf versuchen, miteinander Nachkommen zu zeugen; das naheliegendere, vorrangige Problem scheint mir das Bewusstsein überhaupt. Realien, Altobelli, im Verhältnis bitte. Aber gut, Sie sind ja auch jemand, der durchblättert statt zu lesen, wie Sie erwähnten. Erinnern Sie sich bitte nur an das, was Schmidt mit so viel Wahrheit gesagt hat: dass Lyrik nur schreiben könne, wer praktisch nichts kennt und nur sein eigenes Seelchen belauscht, und dass nichts schlimmer sei als ein Mensch, der über 30 Jahre alt ist und habituell Lyrik produziert. Aber ich glaube nicht, dass Sie das gemeint haben. Ich glaube vielmehr, Sie meinten irgendetwas wie Kunst, Schöngeistiges, Ästhetisches, Kulturelles, irgendetwas vom Schlage des interesselosen Wohlgefallens. Jenes Wundervolle, jenes – ich sage es ohne Ironie – Alleinseligmachende. Hören Sie damit nicht auf. Lassen Sie es nicht pausieren, nur weil irgendwo Blut fließt. Denn dann hätten Sie doch nie damit anfangen dürfen. Weiter! Was sonst? Schlussendlich: Seien Sie froh, dass Sie nicht gedient haben; sehen Sie zu, dass es so bleibt; schaffen Sie Ihre „Zwischenablage“ ab. Zum Thema Gott kein Kommentar, wer bin ich denn?

Reger.

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