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Hundertvierzehn | Bericht
All Male Panels – eine Lektion

Expertenrunden, in denen ausschließlich Männer sitzen? Eigentlich ein gutes Ziel für einen Shitstorm, oder? Die Umwelt- und Verhaltenswissenschaftlerin Jennifer Jacquet hat sich Gedanken darüber gemacht, wie wir öffentliche Beschämung als Werkzeug für eine bessere Welt nutzen können.

 
Jennifer Jacquet

Jennifer Jacquet ist Assistenzprofessorin an der Fakultät für Umweltwissenschaften der New York University, wo sie über die Evolution, die Funktion und die Zukunft des Schamgefühls forscht. Sie promovierte an der renommierten University of British Columbia über Ressourcenmanagement und ist Expertin auf dem Feld menschlicher Kooperation.
Von 2009 bis 2012 schrieb sie den »Guilty Planet Blog« auf der Website des »Scientific American« und verfasst regelmäßig Beiträge für edge.org.

Das neueste Ding, das auf der Welle von Online-Beschämungskampagnen und Memes mitsurft, ist ein Tumblr-Blog, der »alle rein männlichen Gremien, Seminare, Events und verschiedenste andere Formate dokumentieren will, bei denen ausschließlich Männer vertreten sind« – die sogenannten All Male Panels.

Auf einem Foto, das man auf der Seite findet, sind zum Beispiel fein säuberlich dreizehn Männer aufgereiht, die allesamt ganz ernst in die Kamera schauen.



»Die Regierung von Ungarn seit 2014. Glückwunsch, Mr. Orban, sie haben ein rein männliches Kabinett.«

Congrats, you have an all male panel! - Blog

Zum Blog

Die Seite, die es erst seit Februar gibt, funktioniert wie viele andere Blogs dieser Art dank freiwilliger Einsendungen der User und versammelt eine stetig wachsende Reihe ziemlich lustig anzusehender Bilder in Kombination mit dem strategischen Einsatz einer Art Stempel, auf dem ein noch junger David Hasselhoff den Daumen hochhält. Das Wichtige daran? Die Seite hat es geschafft, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das breitere gesellschaftliche Problem männlich dominierter Expertise zu lenken.

Doch dabei gibt es ein Problem: Die Betreiber der Seite hätten es besser vermieden, auf kleinere, rein männlich dominierte Panels wie etwa Talkrunden mit nur zwei oder drei Männern im Bild hinzuweisen (ein Post auf der Seite macht sich beispielsweise über eine TV-Debatte zwischen zwei Männern lustig, die sich offensichtlich über Musik unterhalten).

 

Denn selbst wenn man sich sein Zweier-Panel per Zufall aus der gesamten Bevölkerung zusammenstellen würde, bestünde immer noch ein Viertel der so zusammengesetzten Runden aus zwei Männern. Mit anderen Worten: Es macht wenig Sinn, eine Debatte ins Lächerliche zu ziehen, bei der sich zwei Männer über ein Thema unterhalten. Die Beschämung solcher Zweier- und Dreierrunden untergräbt das komplette Unterfangen. Der Punkt, an dem ein All Male Panel der Beschämung würdig wird, ist schwer zu bestimmen und weist auf eine übergeordnete Herausforderung für jedes legitime Beschämungsunterfangen hin – derjenige, der die Beschämung als Mittel zur Aufdeckung von Missständen wählt, bestimmt darüber, wann die Bloßstellung berechtigt ist.

Die 500 größten Steuerschuldner Kaliforniens

Zur Website

Wo man nun die Grenze für beschämungswürdiges Verhalten zieht, ist eine Frage der Auswahl. Und gutes Shaming sollte eine schlechte Reizschwelle tunlichst vermeiden. Ein Beispiel: Etwas mehr als 10 Prozent der kalifornischen Steuerzahler zahlen ihre state taxes, worunter auch die Einkommenssteuer zählt, nicht. Wenn ich richtig gerechnet habe, besteht die Liste der Steuersünder in Kalifornien damit aus insgesamt etwas mehr als einer Million Menschen, die aus irgendeinem Grund ihre Steuern nicht zahlen können – oder wollen. Im Jahr 2007 entschied sich der Bundesstaat Kalifornien deshalb zu einem drastischen Schritt: Man veröffentlichte ganz einfach eine Liste der Delinquenten. Doch nicht etwa die gesamte Liste all derjenigen, die ihre Steuern nicht gezahlt hatten, sondern lediglich die 250 Personen, die dem Staat das meiste Geld schuldig geblieben waren. Ein paar Jahre später wurde diese Zahl nochmal erhöht und man kann heute eine Liste der 500 schlimmsten Steuersünder Kaliforniens auf einer eigens dafür eingerichteten Webseite einsehen. Der Deal ist: Man bekommt 30 Tage im Voraus Bescheid und kann innerhalb dieser Frist seine Steuerschuld begleichen, andernfalls kommt man auf die Liste. Und wer seine Steuern zurückzahlt, taucht auch nicht mehr auf der Liste auf. Seit 2007 hat diese simple Website zur Rückgewinnung von Steuerschulden in Höhe von 427 Millionen Dollar (Stand: 1. Juni 2015) geführt und gehört damit zu den erfolgreichsten staatlichen Beschämungskampagnen weltweit. Das Bemerkenswerte daran ist – ich sage es nochmal – dass der Bundesstaat Kalifornien nicht die eine Million Steuerschuldner als Ganzes mit öffentlicher Zurschaustellung bestraft, sondern bloß die 500 Personen, die am meisten am Fiskus vorbeiwirtschaften – also weit weniger als 1 Prozent der Betroffenen.

Nun haben sich einige Ökonomen, darunter auch Jean Tirole, der 2014 den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt, daran gemacht, die spieltheoretischen Hintergründe des Schamgefühls – oder der »reputation tax« (dt. etwa: »Ansehens-Steuer«), wie sie es nennen – zu ergründen. Ein Artikel aus dem Jahr 2011 von Tirole und seinem Kollegen Roland Bénabou weist darauf hin, dass die Beschämung am besten »für Verhalten mit sehr hoher oder sehr niedriger Beteiligungsrate funktioniert (da diese je nachdem maximale Stigmatisierung oder maximale Auszeichnung nach sich ziehen können)«. Doch die Autoren machen nicht deutlich, was »sehr hoch« oder »sehr niedrig« in Bezug auf die Beteiligung nun tatsächlich meint. In einigen Fällen kann menschliches Verhalten eine Binärstruktur aufweisen, wie etwa ob man nun Raucher ist oder eben Nichtraucher. Die Idee von Tirole und Bénabou meint dann, dass die Beschämung immer treffsicherer wird, je weniger Raucher es gibt. In anderen Fällen ist ein bestimmtes Verhalten diffuser definiert, wie etwa im Fall des Reichtums des »oberen einen Prozents«. Solche Zuschreibungen, in Kombination mit den Begriffen von »sehr hoch« oder »sehr niedrig« haben dann eher etwas von Konventionen oder Übereinkünften, die von Menschen gemacht und damit sozialer Natur sind. So verhält es sich auch mit dem etablierten Grad von 95 Prozent, um zu bestimmen, ob eine wissenschaftliche Erkenntnis »statistisch signifikant« ist. Hier gerät die Beschämung mehr zur Kunstform und weniger zu wissenschaftlich gesicherter Auseinandersetzung mit menschlichem Verhalten.

Betrachtet man, wie allgegenwärtig und einfach das Beschämen geworden ist, würde es jedem von uns – wie auch den Benutzern, dem Publikum und den Opfern des Mittels der Beschämung – nutzen, wenn etwas mehr über diese Aspekte unseres Verhaltens nachgedacht würde. Die digitalen Technologien repräsentieren einen neuen und immens gefährlichen Zugang zur Bestrafung durch Beschämung, weil sie die Kosten des Klatschens und Tratschens verringert und gleichzeitig deren Reichweite, Geschwindigkeit, Dauerhaftigkeit und Auffindbarkeit vergrößert haben. Wütende Twitter-Shitstorms finden in atemberaubender Häufigkeit statt und einige Blogger werden nicht müde, Einzelne für dumme, aufwieglerische oder schlicht unpassende Kommentare an den Pranger zu stellen (in der Hoffnung, damit den Traffic auf ihren Seiten nach oben zu schrauben). Und während zumindest einige von ihnen im Nachhinein die unverhältnismäßigen Konsequenzen bereuen, die auf die Ziele ihrer Beschämungskampagnen hereinbrechen, gibt es andere, die sich vehement für drastische Strafen einsetzen, wie etwa ein US-Blog, das sich dafür einsetzt, dass rassistische Kommentare zu Entlassung führen sollten.

Die Frage ist, ob wir uns solch ein billiges Beschämen leisten können. Wie bei Antibiotika funktioniert das Mittel der Beschämung am besten dann, wenn man es sparsam einsetzt. Und wie im Falle von Antibiotika besteht die Gefahr, dass wir alle als Opfer des übermäßigen Gebrauchs des Heilmittels abstumpfen.

Wenn es also darum geht, die menschliche Scham als Werkzeug zu nutzen, um menschliches Verhalten zu ändern, sollten wir nicht ausschließlich darauf vertrauen, dass wir schon wissen, welche Bestrafung einer bestimmten Übertretung entspricht oder uns gar anmaßen, die Schwellen selbst zu bestimmen, die anzeigen, ob ein bestimmtes Verhalten auch wirklich der Beschämung wert ist.

Scham

Die Umweltwissenschaftlerin und Biologin Jennifer Jacquet öffnet uns die Augen für die enorme Wirkungskraft eines uralten Begleiters der Menschen, des Schamgefühls. Umgerüstet auf die Bedingungen und Möglichkeiten der neuen Medienwelten und richtig angewandt, hat die Scham das Potenzial, die Begrenzungen der Schuld zu sprengen und den Umgang mit Ungerechtigkeit, verfehlter Politik und schlechten Praktiken großer Konzerne in einer globalisierten Welt für immer zu revolutionieren.
Jennifer Jacquet macht deutlich, wie wichtig es ist, dass wir uns schämen – denn mit der Scham kommt die Erkenntnis. So entsteht ein brillanter Gegenentwurf zu allen bisherigen Einschätzungen dieses Gefühls: Jacquet zeigt, wie wir über das Schamgefühl gesteuert werden und es als politisches Instrument für eine bessere Welt benutzen können.

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Frankfurt am Main 2020
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