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Hundertvierzehn | Fundstück
Die Galgenlieder meiner Mutter

Zu Weihnachten 1951 illustrierte die Mutter von Stephan Wackwitz, eine freischaffende Mode-Illustratorin, für ihren Mann die ›Galgenlieder‹ von Christian Morgenstern. Ein einzigartiges Geschenk und bis heute geliebtes Familienerbstück.

 
Stephan Wackwitz

Stephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, studierte Germanistik und Geschichte in München und Stuttgart. Er leitet heute das Goethe-Institut in Tiflis, nach Stationen in Frankfurt am Main, Neu Delhi, Tokio, München, Krakau, Bratislava und New York. Neben zahlreichen Essays erschienen von ihm Romane (›Die Wahrheit über Sancho Pansa‹, ›Walkers Gleichung‹), autobiographische Bücher (›Ein unsichtbares Land‹, ›Neue Menschen‹) sowie die Reisebücher ›Tokyo. Beim Näherkommen durch die Straßen‹, ›Osterweiterung‹, ›Fifth Avenue‹ und ›Die vergessene Mitte der Welt‹. Zuletzt erschien von ihm 2015 das Buch ›Die Bilder meiner Mutter‹.

Es war kein Geld da. Mein Großvater, in dessen Esslinger Haus das junge Paar 1948 eine winzige und schwer heizbare Dachkammer bezogen hatte, sprach immer nur von der »Bettelmannshochzeit«. Dabei war es nach Niederlage und Entnazifizierung auch mit den Einkünften aus seinem vormals so einträglichen und kriegswichtigen Patent nicht mehr weit her. Und heiraten mussten meine Eltern sowieso, denn meine Mutter war seit Mai 1951 schwanger mit mir. Ein Betriebsunfall. Eine freischaffende Mode-Illustratorin, ein Student, ein zerstörtes Land. Die Hungerzeit nach dem Krieg lag erst ein paar Jahre zurück. Aussichten hatten die beiden jungen Leute so wenig wie die besiegte germanische Herrenrasse insgesamt. Und es war absolut kein Geld da.

Christian Morgenstern hat, finde ich inzwischen, neben Stefan George, Bertolt Brecht und Rainer Maria Rilke die relevantesten Gedichte des späten deutschen Kaiserreichs und der ersten Republik geschrieben. Wie schön, gewagt, menschlich und elegant aber auch Morgensterns nicht-komische Gedichte sind, habe ich zu meiner Beschämung erst in jüngster Zeit entdeckt und verstanden.

Seine berühmten ›Galgenlieder‹ aber (mit denen er in die Literaturgeschichte eingegangen ist) gehören sozusagen schon aus der Zeit vor meiner Geburt zu mir. Denn es war, wie gesagt, kein Geld da. Und als meine hochschwangere Mutter, während es auf Weihnachten 1951 zuging (die Rosenbergs waren im Sommer hingerichtet worden; Stalin lebte noch; McCarthy zitierte die amerikanischen Intellektuellen vor seinen Ausschuss; die letzte Schlacht des Koreakriegs war im Gange), darüber nachdachte, was sie meinem Vater zu Weihnachten schenken könnte, hatte sie nichts anderes als ihre Phantasie, gewisse Erinnerungen an die Bürgerboheme der Vorkriegszeit – und ihre Kunst.

Sie nahm sich deshalb die 1950 herausgekommene Insel-Gesamtausgabe der ›Galgenlieder‹ vor, die ihr mein Vater noch im gleichen Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Und sie zeichnete neben ihrer Brotarbeit für die Stuttgarter Werbeagentur Hohnhausen hinein, was ihr Hauptwerk sein und bleiben sollte: Feder- und Wasserfarbenillustrationen der ›Galgenlieder‹, die sie auf dem Titelblatt mit einem eigenen Gedicht ergänzte© Stephan Wackwitz – und mit einer paradiesisch-erotischen Phantasiedarstellung ihrer Träume darüber, wie sie sich unsere Familie in dem gerade erst gegründeten neuen Deutschland vorstellte. Es ist eine überraschend sinnliche Vorstellung. Wir sind alle drei nackt. Meine Eltern sind jung, schlank und schön (meine Mutter auch nackt so unbeschädigt, wie sie nach einer Kriegsverwundung 1944 in Wirklichkeit nie wieder gewesen ist). Und es sollte um Kunst, Wissenschaft und Literatur gehen in dieser – mit der Gründung unseres Landes fast gleichzeitigen – Familiengründung: Mama schwingt den Pinsel; Papa macht sich Notizen in einem Buch; Junior schlummert in einer friedlichen und lustigen Bilderbuch-Natur.© Stephan Wackwitz

Es ist schön und rührend. Und ziemlich weit entfernt von den Entwicklungen, die folgen sollten. Aber das macht nichts. Meine Eltern wussten das damals auch noch nicht. Als Kind habe ich dieses in nur einem Exemplar existierende Buch oft durchgeblättert, die Bilder meiner Mutter betrachtet und in Morgensterns ›Galgenliedern‹ herumgelesen. Und heute ist dieser von meiner Mutter illustrierte sonnengelbe Leinenband das Wertvollste, was von der Kunst meiner Mutter auf mich gekommen ist.

Was ist aus der Gründungsperiode der Bundesrepublik mit diesem Buch in mein Leben und mein Unterbewusstsein eingegangen? Da sind zunächst gewisse Stimmungen. Landschaften in dem durchsichtig-flüchtigen Impressionsstil, der damals, aus Amerika kommend, auch in der Werbegraphik und in den Kinderbüchern der Zeit Mode war. Es gibt in diesem Buch Interieurs, die heute noch in meinen Träumen auftauchen. Und als ein besonders wertvolles Erbteil ist in ihm zu lesen und zu betrachten, dass für Christian Morgenstern (und dann eine Weile lang offenbar auch für meine Eltern) Ideologien, Autoritäten, Institutionen, Staaten, Prinzipien und Gewissheiten, so wichtig das alles sein mag, manchmal in letzter Instanz nur dazu gut sind, sich über sie lustig zu machen. Weil nämlich all diese Lebensgeländer nichts Festes und Endgültiges sind. Dass ideologische und politische Standards und Einrichtungen verändert werden können. Dass sie für die Menschen und ihr konkretes Leben da sind, statt andersherum (»Staunend liest’s der anbetroffne Chef«). Die innere Freiheit einer Bürgerbohème des frühen Jahrhunderts kommt mir heute aus diesen Seiten entgegen. Sie war einmal Teil unserer Familie. Sie hatte sich in den frühen fünfziger Jahren mit den neuen (den amerikanischen) Freiheiten verbunden. Und das Zusammenspiel der Bilder meiner Mutter mit den ›Galgenliedern‹ ist für mich seither und für immer das, »was allen in die Kindheit schien und worin noch niemand war: Heimat« (Ernst Bloch).
© Stephan Wackwitz© Stephan Wackwitz© Stephan Wackwitz© Stephan Wackwitz© Stephan Wackwitz© Stephan Wackwitz© Stephan Wackwitz
Die Bilder meiner Mutter

Stephan Wackwitz erzählt das Leben seiner Mutter, wie es war und wie es hätte sein können – mit Warmherzigkeit und Einfühlung, mit Intelligenz und Genauigkeit. Hineingeboren in eine schwäbische Industriellenfamilie in Esslingen am Neckar, flieht die 1920 geborene Margot vor dem autoritären Vater ans Berliner Lettehaus, wo sie das Modezeichnen erlernt. Aber trotz frühen künstlerischen Erfolgen und einer Amerikareise gelingt es ihr im Wirtschaftswunder-Deutschland nicht, aus ihrer Begabung mehr zu machen als das Hobby einer Ehefrau und Mutter in der deutschen Provinz. Das 20. Jahrhundert hat Frauen wie ihr alle Möglichkeiten eröffnet – und sofort wieder verschlossen.

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Frankfurt am Main 2020
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