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Hundertvierzehn | Bericht
Open Mike 2014

Im Heimathafen in Berlin Neukölln hat sich die junge Literaturszene getroffen, um die Texte der Teilnehmer des 22. Open Mike zu hören. Der Blogger Fabian Thomas und unser Programmleiter für internationale Literatur Hans Jürgen Balmes waren als Zuhörer und Lyrik-Lektor dabei.

 
Hans Jürgen Balmes

Hans Jürgen Balmes ist Editor-at-Large bei S. Fischer.

open mike - zweiundzwanzig

Startnummern werden verlost, und wir sitzen im Regen unter einem Sonnenschirm, den der Literaturbetrieb über uns hält, um dann zu sehen, wie alle schnell ins Haus rennen, damit die Texte nicht nass werden.Die eingereichten Texte im Bereich Lyrik im Garten sortiert. Foto: Hans Jürgen Balmes Und die Haare sowieso. Ich bin Lektor, habe die Lyriker aus dem Stapel gezogen, und zittere nun an der Bande mit – will, dass jeder sein Ding abliefert, dass alle Texte strahlen, jeder ein Solitär. Einer von den Lyrikern hat tatsächlich die Eins gezogen, und tatsächlich, gegen jede Regel, wird er gewinnen, und ein Lyriker ist der Letzte – vielleicht kann er kurz vor Nachspielzeit das Spiel noch wenden.

In der Hand zusammengefaltete, zerlesene Zettel, hundertmal die Intonation geprobt und den Witz herausgekitzelt oder die Stimmlage gedehnt, damit die Emotion den Blueprint der Gesamtanlage vergessen macht. Texte kommen mit hängenden Schultern und werden mir rollenden Augen gelesen, auf dem Tisch glattgestrichen, Autoren kommen mit hängenden Schultern und lesen wie vom Messtischblatt, werden von der Jury im Nachhorchen der Lesung glattgestrichen. Silbe für Silbe, während die Hildesheimer Homies abgehen bei den Zugaben von der heimischen Prosa Nova Ranch.

Die Jury bleibt ruhig, sie sitzt hinten im Gang unter den Balkonen, im Halbdunkel, die Texte in Leitz-Ordnern, seitlich zum Publikum, die Jury ist gelassen, ist zugetan, lacht, grinst, gähnt, offen, unvoreingenommen, Tassen, Gläser, gefaltete Stirnen, jeder in der Jury ein Autor, der auch mal jung war.

Flaschen fallen manchmal im Publikum um, kippen mit einem Klick, wobei dann alle die Füße hochheben oder ihre Beutel, Taschen, Jacken. Bei den Texten – da lehnen sie sich bei stillen Lesungen nach vorn und wollen ganz dabei sein: Es ist ja einer von ihnen da auf der Bühne, eine von ihnen, und sie liest vom Lektor alleingelassen ihren Text: für das Mike, für den Saal, mit Zittern und Lust, mit Provokation und Sehnsucht. Jeder Text will bestehen, will funkeln, will glänzen.

Die Scouts, die Agenten, die Lektoren – sie schlagen die Beine übereinander, sie checken das Mobile, sie blättern im open-mike-Buch, sie malen an den Rand, sie checken das Mobile, sie lachen mal mit und blicken sich um, ob das einer gesehen hat, sie verschränken die Arme und nippen am Bier oder am eingefallenen Milchschaum des Lattes. Dauernd wird in der Pause ein anderer Autor gefragt, wie es war, ob es schon einen Verlagskontakt gibt, wo der Vertrag denn bleibt, alles im Betrieb schiebt sich einander die Aufgaben zu, und jede/r ScoutIn, AgentIn oder LektorIn tut so, als hätte sie/er die Frage überhört, spitzt aber die Ohren.

Mancher Text ist ein Song, der seinen Refrain noch nicht gefunden hat – und so klingt er nach 5 Minuten so wie alle. Andere sagen, sie hätten erst 80% der Awareness hochgeladen, handeln aber mit 120%, sind nervös, aber keiner verheddert sich, nur eine Autorin, die noch letzte Woche am Blinddarm operiert wurde: Aber ich bin hier! Applaus.

Applaus, für alle, für die Gedichte, und die Prosa, wobei der Unterschied nicht immer zu hören ist – so liest man die Prosa, so liest man die Lyrik  –, aber die Lyrik hat den Vorteil, nicht immer von was erzählen zu müssen. Und wovon erzählt wird, na ja, das klingt manchmal wie in Klagenfurt, manchmal wie beim Slam, manchmal wie im Seminar, in dessen Geist die Geschichte der Liebe neue buchstabiert wird – das macht Laune, aber bleibt dem alten Vokabular verhaftet – »Schaft« ist altväterliche Erotik und nur gut ohne c und mit funk.

Und dann ist es vorbei, die Blogger speichern ab und räumen ihre Tische auf, Patrick Hutsch macht nur noch Polaroids, die schon eingebaute Instagram-Filter haben: Wir sehen uns in grün und gelb und sepia. So wertig sieht aus, was vor fünf Minuten noch Gegenwart war.

Hans Jürgen Balmes

Fabian Thomas

Fabian Thomas arbeitet als Blogger und freier Redakteur in den Bereichen Kultur und Literatur in Berlin. www.thedailyfrown.de

Weiterschreiben lohnt sich. Notizen aus dem Heimathafen

Irgendwann schieben sich die Eindrücke ineinander. Die abendländische Poesie beginnt mit Sappho, wie Hans Jürgen Balmes ins Gedächtnis ruft (›Der Mond wie Silber‹), und der Sommer kann noch so schön sein, wenn es im Bus »wie in einer geschlossenen Büchse« riecht, hat man nicht viel davon. Lyrik kann eine neuronale Schwebebahn sein – nicht nur, wenn sie aus Wuppertal kommt. Sie kann aber auch das Meer in eine Qualle verwandeln, die nicht aufhört, an Land zu schwappen.

Zwei Tage lang Lesungen, back to back, Lyrik und Prosa im Akkord – seinen Reiz zieht der Open Mike, der größte Wettbewerb für junge deutschsprachige Literatur, aus der kontrollierten Überforderung. Wenn in den Pausen und Abendstunden das Gespräch weitergeht, ist es, als ob flammende Zungen sich auf die Besucher verteilen, die zuvor stumm zuhören mussten und nun loslegen können: Wer ist dein Favorit? Wie fandest du diesen Leseblock? Wie hat er gelesen, wie hat sie gelesen? Was hat dich überrascht, was hat dich enttäuscht?

Das ist der Soforteffekt des Open Mike: Ein Gespräch über Literatur in Gang zu bringen, Literatur sichtbar zu machen, in einem feierlichen Rahmen und einer knisternden Atmosphäre.

Alles anders? Alles neu? Im Vorfeld des 22. Open Mike wurden auf dem Wettbewerbsblog die Lektoren aus der Vorjury befragt, wie ihr Eindruck der eingesandten Texte gewesen sei. Neben »Liebe« (Gunnar Cynybulk) und Alltäglichem (Diana Stübs: »Es wurde sehr viel Pizza gegessen, gekifft«) äußerten sich Susanne Krones vom Luchterhand Verlag und Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag sehr klar. Während Krones zwar die Vielzahl an »sozialkritischen Themen« positiv herausstrich und dagegen »politische, wirtschaftliche und technische« vermisste, war es vor allem Jörg Sundermeier, der einigermaßen erstaunt zugab: »Ich war, angesichts der ›Arztsohn‹-Debatte in diesem Frühjahr, irritiert, dass viele der eingesandten Texte ein gesellschaftspolitisches Thema hatten. Damit hatte ich nicht gerechnet.«

Was die sechs Lektoren der Vorjury aus knapp 600 Einsendungen auf die an diesem Novemberwochenende im Neuköllner Heimathafen lesenden 22 Autoren destilliert hatten, konnte man nun live auf der Bühne erleben: Lyrik, die vom Innersten des Gehirns und an die Ränder der Zivilisation führte, und Prosa, die ironisch-reflexiv das eigene Schreiben thematisierte und in die knallharte Realität eines Alltags führte, der sich in Sterbehospizen, Frauengefängnissen und großstädtischen Einkaufszentren abspielt.

»Wir machen so Volksbegehren, Dicker. Mit Demokratie«: Der Jury fiel es leicht, sich auf den Gewinnertext ›Die Krieger des Königs Ying Zheng‹von Doris Anselm zu einigen, der sich souverän und in einer sprachlich interessanten Form eine illusionslose Weltsicht zu eigen machte. Damit legte sie den Akzent klar auf den gesellschaftspolitischen Anteil der Wettbewerbstexte: Simone Kanter, die aktuellste Bezüge zu Euromaidan und Afghanistan in ihren Beitrag ›Dreck am Stecken‹ einflocht, Andrea Sozio, deren geschulter Blick ein dramatisches Frauenschicksal in einen bewegende Geschichte verwandelte, und auch Lara Hampe, die mit ›Sic‹ den wohl ungewöhnlichsten, fast schon ins Essayistische hinüber gleitenden Text präsentierte. Schlechte Karten hatten die geschmeidig und vielleicht etwas zu glatt erzählte jugendliche Sommergeschichte ›Molicure Moss‹ von Jenifer Johanna Becker und die in rasantem Tempo vorgetragene, kühn geschnittene Boy-meets-Girl-Story ›Jackie-Olé‹ von Nora Linnemann.

Bei der Lyrik war die Lage etwas verzwickter: Ein hochkomplexes Projekt wie die an Darwins Vererbungslehre angelehnten Rautenkranz-Sonette von Felix Schiller und Kathrin Bachs suggestive, bildstarke und elliptisch-kurze Gedichte, Özlem Özgül Dündars Synapsengewitter und Eva Maria Leuenbergers Birken-Melancholie, Walter Fabian Schmids lüstern gelesene Hypertext-Lyrik und Arnold Maxwills karge westfälische Landschaften spannten einen weiten Bogen. Das dürfte die Entscheidungsfindung der Jury erschwert haben, gleichzeitig ist es aber auch ein nachdrückliches Plädoyer für die Vielgestaltigkeit und Lebendigkeit der gegenwärtigen Lyrik. Was wohl letztlich für Robert Striplings Kür zum Sieger sprach, war, dass sich hier poetische Konzentration, künstlerisches Selbstbewusstsein und die Neugier des lyrischen Ichs auf eine zu erkundende Welt im glücklichsten Verhältnis zueinanderstanden; nicht zuletzt brach sie eine Lanze für die gern übersehene Form des Prosagedichts.

Was bleibt? Ein Gewinnertext, der mit einer kantigen und sehr erfinderischen Sprache seinen Blick auf die Wirklichkeit lenkt. Eine in ihrer Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit (»Sei Rilke oder finde einen Job!«) berührende Rede von Juror Björn Kuhligk, die vielleicht dem ein oder anderen einen allzu romantischen Blick auf den Literaturbetrieb ausgetrieben hat. Und viele, viele Momente, in denen sich zeigte: Es ist noch nicht alles gesagt. Das Weiterschreiben lohnt sich, vielleicht mehr als je zuvor.

Wettbewerbe verengen immer den Blick, sind ungerecht, ebnen Vielfalt auf normative Unterscheidungskriterien ein. Leicht geht daher das Diktum von der Zunge, man könne die junge Literatur, die junge Lyrik und Prosa anhand eines Wettbewerbs wie des Open Mike besser beurteilen, einordnen, kategorisieren, gerade in Hinblick auf die Vermarktbarkeit eines Labels wie »Debütautorin« und »junge Stimme«. Aber so einfach ist es nicht, was gerade dieses Mal wieder aufs Beste unter Beweis gestellt wurde: Die junge Literatur, wie sie sich auf der samtroten Bühne des Heimathafens präsentiert hat, ist weiterhin ein vielgestaltiges, kompliziertes Abenteuer.

Link zu den Lesungen auf litradio.net: https://soundcloud.com/litradio/sets/open-mike-22

Fabian Thomas

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Frankfurt am Main 2020
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