EXTRA: Lesen Sie hier eine Bildergeschichte aus ›Katharsis‹
Sie waren beide sofort von Luz, ›Katharsis‹ begeistert und an einer Übersetzung interessiert. Einziger Grunde für ein Zögern war der hohe Zeitdruck, weshalb Sie sich ja zusammen getan haben. Was hat Sie im ersten Moment an diesem Buch so fasziniert?
Uli Aumüller: Dass darin der – gelungene – Versuch gemacht wird, die Gattung Comic zur Auseinandersetzung mit einer großen Tragödie und tiefen emotionalen Erschütterungen zu benutzen.
Grete Osterwald: Ich war unabhängig von dem Übersetzungsangebot schon sehr gespannt auf das Erscheinen dieses Buchs in Frankreich, das mir nach allem, was ich darüber gelesen hatte, im Rahmen der gesamten öffentlichen und politischen Diskussion um den Terroranschlag, Meinungsfreiheit, Solidarität und die Entwicklungen innerhalb der Redaktion von Charlie Hebdo außerordentlich wichtig erschien, weil es eine ganz andere Sichtweise einnimmt und sich mit Problemen beschäftigt, die weit über das Presseübliche hinausgehen. Regelrecht überwältigt war ich dann, als ich das Buch vor Augen hatte. Dass Luz durch die Verbindung von Zeichnung und Sprache ein so kunstvolles, sensibles und persönliches Meisterwerk an komplexen Fragestellungen oder vielmehr deren Auflösung in kurzen Szenen gelingen würde, hatte ich mir bei den höchsten Erwartungen nicht vorstellen können.
Wussten Sie, wer Luz genau ist?
GO: Ich hatte Charlie Hebdo seit Januar abonniert, als kleines Zeichen der Solidarität und um die Entwicklung der Zeitung weiter zu verfolgen. Da standen die Beiträge von Luz als einzigem Überlebenden unter den großen Zeichnern der Redaktion natürlich im Vordergrund. Auch bei den Konflikten, die in den letzten Monaten innerhalb der Redaktion und in deren Umfeld ausgebrochen sind, war ich besonders hellhörig für Luz‘ Stellungnahmen, die ich interessant fand und gut nachvollziehen konnte. Mit seiner persönlichen Geschichte und seinen früheren Comic-Veröffentlichungen habe ich mich erst im Zuge der Übersetzung beschäftigt.
UA: Ich habe Luz Namen und seine besondere Geschichte erst durch die Berichterstattung nach dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo kennengelernt.
Haben Sie schon mal dieses Genre übersetzt?
UA: 2000 habe ich für Zweitausendeins ›Camus kurz und knapp‹ von David Z. Mairowitz und Alain Karkos aus dem Englischen übersetzt,eine Art (seriöse) Graphic Biography mit vielen wörtlichen Zitaten aus Camus’ Werken, die ich damals gerade z. T. neuübertragen hatte. Leider ist das sehr schön gezeichnete und intelligent geschriebene Büchlein vergriffen.
GO: Noch nie, umso größer war meine Lust, mich dieser Herausforderung zu stellen.
In ›Katharsis‹ heißt es: »Dieses Buch ist kein Zeugenbericht, geschweige denn ein Comic, sondern die Geschichte des Wiedersehens zweier guter Freunde, die sich eines Tages beinahe nie wieder begegnet wären.« Wie würden Sie Luz' Werk bezeichnen?
UA: Man könnte es als ein Stück Bewältigungsliteratur beschreiben zur Verarbeitung eines Traumas. Trauerarbeit mit dem Zeichenstift.
GO: Ich meine, das ist nur eine Seite, die sehr persönliche, die aber keineswegs eine private ist. Die andere würde ich als brisante Denkanstöße mit dem Zeichenstift beschreiben. Besonders in Bezug auf die vielschichtigen Fragen von Solidarität, Symbolik und Heroisierung, die Luz als Betroffener in ungewöhnlicher Schärfe erfasst.
Haben Sie schon öfter zusammen übersetzt?
UA: Schon einige Male. Als erstes 1983 den zweibändigen Wälzer ›Jeanne in den Gärten‹ und ›Jeanne über den Meeren‹, einen im 18. Jahrhundert spielenden historischen Roman von Fanny Deschamps. Sehr erfolgreich, leider auch vergriffen. Dann haben wir zusammen eine Neuübersetzung von Simone de Beauvoirs Standardwerk des Feminismus ›Das andere Geschlecht‹ gewagt. Aus dem Englischen haben wir von Siri Hustvedt den Roman ›Was ich liebte‹ und den Großessay ›Die zitternde Frau‹ sowie 2011 von Jeffrey Eugenides ›Die Liebeshandlung‹ gemeinsam übersetzt.
GO: Insofern sind wir also ein eingespieltes Team, das auf einer jahrelangen übersetzungsunabhängigen Freundschaft beruht. Aber nicht alle Texte sind überhaupt für eine Gemeinschaftsarbeit geeignet, und jede von uns hat durchaus eigene Interessen und Vorlieben.
Sie beide sind renommierte, hoch ausgezeichnete Übersetzerinnen, war es für Sie wichtig, sich auch einmal an eine Graphic Novel zu wagen?
GO: Es war eine tolle und sehr bereichernde Erfahrung, weil man den Stilmitteln und der Aussagekraft literarischer Texte während einer Übersetzungsarbeit durch die Abwägung jedes Wortes und jeder grammatikalischen Konstruktion in ihrem jeweiligen Kontext sehr viel genauer auf die Schliche kommt, als bei sonstigen noch so intensiven Beschäftigungen mit einem Text. Bei der Graphic Novel kommt die Wechselwirkung von Zeichnung und Sprache als Schlüsselelement hinzu,wobei die Zeichnungen eine Vielfalt von Assoziationen herbeizitieren können, wie Sprache es so gebündelt nicht vermag, während die Sprache in einzigartiger Weise den Schlüssel bedient oder liefert. Luz geht so kunstfertig damit um, dass er meiner Ansicht nach mit zeichnerisch und sprachlich spitzer Feder ein besonders hohes Maß an komplexen und sensiblen Punkten trifft.
UA: …und es war jedenfalls eine sehr anregende Abwechslung von den oft sehr umfangreichen und literarisch anspruchsvollen Büchern, die wir sonst übersetzen.
Wären Sie daran interessiert, noch einmal dieses Genre zu übersetzen?
UA: Sehr gerne, das kann ich wohl für uns beide sagen. Am liebsten etwas Witziges mit viel Slang und Argot. Es ist vielleicht ähnlich wie der Wunsch, den ernsthafte Schauspieler oft äußern, in einer Komödie mitzuwirken, »um sich einmal ausprobieren zu können« …
Worin bestand im Gegensatz zu einem Romantext bei ›Katharsis‹ die Herausforderung?
UA: Da sich der Kontext hauptsächlich aus den Zeichnungen ergibt, musste man sie sich sehr genau ansehen und bei einem unsicheren Verständnis mit den mehr oder weniger spärlichen Wortbeiträgen abgleichen. Da ›Katharsis‹ wie gesagt kein üblicher Comic, d. h. nicht komisch ist, galt es, eine eher neutrale Sprachebene zu finden. Es wird auch kaum Slang verwendet, so dass wir uns in unserer Diskussion auf ein alltagssprachliches Niveau einigten. Da Deutsch umfangreicher ist als Französisch, musste nicht nur jedes Wort treffend, sondern die Sätze mussten auch möglichst knapp sein, damit sie in die vorgegebenen Sprechblasen und Fließtextzeilen passten.
GO: Als Vorarbeit war es natürlich nötig, sich mit dem Genre Comic/ Graphic Novel in deutschsprachigen oder aus dem Französischen übersetzten Werken zu beschäftigen. Dabei haben mir Gespräche mit passionierten Comiclesern und auch die fachkundige Beratung im Frankfurter Comicladen an der Berliner Straße sehr geholfen. Es fällt auf, dass sich die gesamte deutsche Comicsprache ganz gleich, ob oder aus welcher Sprache die Texte übersetzt werden, für alle nicht-deutschen Ausdrücke des Englisch-Amerikanischen bedient. Dadurch geht viel von dem spezifischen kulturellen Hintergrund verloren.Unter den vielen Comics aus dem Französischen fand ich keinen, der irgendwo sprachlich auch französische Akzente setzt. Deshalb hatte ich anfangs den Gedanken,dies bei ›Katharsis‹ einmal zu versuchen und Schimpfwörter oder Flüche wie putain, merde, putain de merde oder auch das liebevolle mon vieux pote an bestimmten Stellen zu übernehmen. Im Zuge der Übersetzung fand ich ›Katharsis‹ dafür dann ungeeignet, die Idee aber weiterhin erstrebenswert. Ich glaube, das könnte eine pikante Annäherung an das Original erlauben und ein zusätzlicher Spaß für den Leser sein.
Wie schätzen Sie Luz‘ doch sehr persönliches Buch im Zusammenhang mit der ganzen Geschichte um Charlie Hebdo ein?
UA: Das Buch ist tatsächlich fast ganz und gar persönlich, bis auf drei, vier nicht sehr provokante kleine Episoden, die sich auf die islamistischen Attentäter und die vorangegangene Behandlung des Themas Islamismus durch Charlie Hebdo beziehen. Das erscheint mir klug und richtig, weil es angesichts des barbarischen Terroraktes unangebracht wäre, sich polemisch damit auseinanderzusetzen.
Verfolgen Sie die Entwicklung von Charlie Hebdo weiter?
GO: Das ist für uns beide selbstverständlich. Französische Zeitungen wie Le Monde zu lesen und Nachrichtensendungen auf TV5 zu sehen, das gehört ebenso wie Aufenthalte in Frankreich schon zu unserem Beruf als Französischübersetzerinnen, ganz abgesehen von dem persönlichen Interesse, das natürlich in Bezug auf Charlie Hebdo besonders stark ist. Trotzdem hat die Arbeit an ›Katharsis‹ eine viel größere Nähe für uns geschaffen und sicher auch eine geschärfte Wahrnehmung.
Luz steht unter Personenschutz, es ist schwer, ihn zu treffen, wenn Sie aber die Möglichkeit hätten, welche Fragen hätten Sie an ihn?
UA: Ob er schon Pläne für die Zeit nach seinem Ausscheiden aus Charlie Hebdo im Herbst hat.
GO: In einem französischen Interview sagte Luz, ›Karthasis‹ sei kein »Projekt« für ihn gewesen, sondern eine Lebensnotwendigkeit und ein Prozess, mit dem er abschließen wolle, um sich danach anderen Dingen zuzuwenden. Aber der riesige Erfolg von ›Karthasis‹ schafft sicher zugleich einen unerhörten Erwartungsdruck, sodass ich gut verstehen könnte, wenn er sich mit seinen persönlichen Vorhaben noch zurückhält.
Zum Verhältnis von Text und Zeichnung wurde schon viel gesagt, die Zeichnung soll den Text unterstützen oder andersherum, Zeichnung und Text stehen sich gleichberechtigt gegenüber usw. Was sagen Sie zum Verhältnis von Text und Zeichnung in ›Katharsis‹?
UA: Schon beim Durchblättern fällt auf, dass sehr viele Seiten von ›Katharsis‹ nur wortlose Zeichnungen sind. Ich denke da natürlich zuerst an die ganz rote Seite, mit einem ganz kleinen Blau unten – die minimalistische Darstellung des Blutbades, das Luz am Morgen seines Geburtstags in der Redaktion vorfand und der Beginn des Horrors. Das kleine Blau schält sich dann allmählich aus dem Rot als der Mantel seiner Liebsten Camille heraus, die ihn abholen kommt und ihm in den nächsten Monaten aus dem schlimmsten Schock heraushilft. Eine ergreifende Gestaltung des Nichtdarstellbaren und Nichtsagbaren.
Egal, mit wem man spricht, ›Katharsis‹ ist ein Buch, das jeden erschüttert, aber auch in einer gewissen Weise tröstet. Woran, glauben Sie, liegt das?
UA: Neben der – meisterhaften – Darstellung des Grauens und der Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung, unter der der Autor offenbar leidet, kommen ja durchaus auch einige heitere Szenen vor. Und besonders tröstlich ist natürlich das »Projekt«, das Luz und seine geliebte Camille ganz am Ende vorsichtig in Angriff nehmen. (Mehr wird nicht verraten.)
GO: Aber posttraumatische Belastungsstörung klingt mir zu sehr nach einer unangebrachten Ferndiagnose und einem Etikett, das eher geeignet ist, das Erschütternde an ›Katharsis‹ einzuebnen. Erschütternd finde ich gerade die Darstellung dessen, was du eben das Nichtsagbare genannt hast,die Zerrissenheit und Gespaltenheit der eigenen Identität vor und nach dem Anschlag, immer in der Wechselwirkung des nach innen und nach außen gerichteten Blicks, die Luz höchstpersönliches Erleben zugleich – nach außen gerichtet – mit dem des Lesers verbindet. Ich meine die Tiefe der Risse im Inneren in Verbindung mit denen in der Außenwelt, wie sie zum Beispiel in falschen Solidaritätsbekundungen zum Ausdruck kommen, und die uns alle angehen. Ja, und das Tröstliche liegt sicher darin, dass Luz uns vorführt, im Zeichnen eine Art Waffe gegen sein hilfloses Zittern gefunden zu haben. Das hat etwas Heilsames, für ihn selbst ebenso wie für uns Leser. Ich fürchte nur, dass es bei uns leicht zu der beruhigenden Selbsttäuschung führen kann, er habe für seine Person nunmehr einen gesicherten Weg der Heilung gefunden.
Luz ist geborener Comiczeichner, in ›Katharsis‹ geht er aber weit über die Grenzen des Comiczeichnens hinaus, könnten Sie sich ein Gemälde von ihm vorstellen?
UA: Die Seiten sind zu etwa 80 Prozent schwarz‑weiß gestaltet. Farbe wird sparsam, aber sehr effektvoll eingesetzt. Etwa die Seiten, wo Luz und Camille im Nebel spazieren gehen, sind sehr schöne, durchaus künstlerische Aquarelle. Von da aus zu Gemälden ist es nicht weit.
GO: Ganz offensichtlich haben Luz‘ Zeichnungen im Lauf der unter Schock entstandenen tagebuchartigen Arbeiten an ›Karthasis‹ eine neue Qualität angenommen. Man könnte die Frage aber auch anders herum stellen – warum sollten bestimmte Comiczeichnungen nicht Gemälde sein? Die Grenzüberschreitung deutet sich auch auf der literarischen Seite an, nachdem ›Katharsis‹ es in Frankreich als erstes Buch des Genres Comic/ Graphic Novel auf die Bestsellerliste allgemeiner Literatur geschafft hat.
Was wünschen Sie Luz für seinen weiteren Weg?
GO: Dass sich seine wiedergefundene Freundschaft mit dem Zeichnen weiterentwickeln kann …
UA: … und dass er und Camille es schaffen, trotz aller Belastungen – selbst der Riesenerfolg in Frankreich von ›Katharsis‹ muss ja verkraftet werden – das auf der letzten Seite begonnene gemeinsame Projekt zu verwirklichen.

Weil Luz am 7. Januar noch mit seiner Frau seinen Geburtstag feierte, kam er erst in die Redaktion von Charlie Hebdo, als die Attentäter schon auf der Flucht waren. Zeichnen konnte er erst einmal nicht mehr. Mit ›Katharsis‹ kam aber Luz zum Zeichnen zurück. In Bildern und Texten erzählt er von der Angst und dem Schrecken, von der Zeit danach, als er Charlie Hebdo als Redakteur verließ und herausfinden musste, wie es weitergehen soll: »Ich hatte jetzt das Bedürfnis, zu zeigen, wie es in meiner inneren Welt aussieht.« Dieses Buch ist überwältigend, von einer erschütternden Offenheit und bei allem von einem befreienden Humor.