Dieses Gedicht – so erzählt uns Coleridge – verfasste er in einem Traum. Einige Zeit seines Lebens verbrachte er in einem einsamen Landhaus zwischen den Dörfern Porlock und Linton. An einem dieser Tage nahm er ein starkes Beruhigungsmittel und schlief kurz darauf ein; er schlief an die drei Stunden, und in dieser Zeit, so sagt er uns, verfasste er das Gedicht; gleichzeitig und völlig ungezwungen ergaben sich in seinem Geist die Bilder und die dazugehörigen verbalen Formen.
Sofort nach dem Erwachen machte er sich daran, das eben von ihm Komponierte niederzuschreiben; er hatte bereits an die 30 Zeilen aufs Papier gebracht, als man ihm den Besuch »eines Mannes aus Porlock« meldete. Coleridge sah sich zu seinem Empfang gezwungen. Ungefähr eine Stunde war er mit ihm beschäftigt. Als er sich unmittelbar darauf wieder an die Niederschrift des von ihm im Traume Komponierten setzen wollte, stellte er fest, dass er vom Rest des Gedichts fast alles vergessen hatte; ihm fiel nichts anderes mehr ein als das Ende – noch weitere 24 Zeilen.
Und so haben wir diesen »Kubla Khan« heute als Fragment oder als Fragmente; – Anfang und Ende einer irgendwie erstaunlichen Sache, die aus einer anderen Welt stammt, in ein Mysterium gehüllt ist und sich unserer menschlichen Einbildungskraft entzieht; und mit Schrecken müssen wir feststellen, dass uns die wirkliche Handlung für immer fremd bleibt. Mit einer solchen Natürlichkeit und unheimlichen Fülle kam nicht einmal Edgar Allan Poe (ein Anhänger Coleridges, ob er es wusste oder nicht) der Anderen Welt nahe, weder im Vers noch in der Prosa. Ungeachtet all seiner Kälte gibt es bei Poe immer noch irgendeine Sache, die untrüglich von uns stammt; im »Kubla Khan« ist alles anders, alles ist jenseitig; und auch wenn man nicht weiß, was sich dort in einem unmöglichen Orient alles abspielte, der Dichter muss es wirklich gesehen haben.
Man weiß nicht – Coleridge sprach nie darüber – , wer dieser »Mann aus Porlock« war, den so viele, wie ich selbst, noch heute verdammen. Sollte es nur ein wirrer Zufall gewesen sein, dass dieser namenlose Störenfried auftauchte und die Verständigung zwischen dem Unergründlichen und dem Leben unterbrach? Entstammte dieser scheinbare Zufall einer geheimnisvollen Wirklichkeit, einer von denen, die vorsätzlich die Offenbarung der Mysterien, selbst wenn diese intuitiv und zulässig sein sollte, oder die Wiedergabe von Träumen, auch wenn in ihnen die Möglichkeit einer Offenbarung schlummert, zu verhindern scheinen?
Wie auch immer, ich vermute, Coleridges Fall stellt – in einer überspitzten Form, die als lebendige Allegorie dienen kann – genau das dar, was in uns allen geschieht, wenn wir in dieser Welt mit einer der Kunst würdigen Sensibilität und als falsche Pontifizes versuchen, mit der Anderen Welt in uns selbst zu kommunizieren.
Wir alle, selbst wenn wir im wachen Zustand etwas erdichten, erdichten es immer im Traum. Und auch wenn uns niemand besuchen sollte, uns allen erscheint immer »der Mann aus Porlock«, der zwangsläufige Störenfried. Alles, was wir wirklich denken und fühlen, alles, was wir wirklich sind, erleidet (wenn wir es ausdrücken, und auch wenn es nur für uns selbst sein sollte) schicksalshaft die Unterbrechung von jenem Besucher, der wir selbst sind, von dieser äußeren Person, die jeder Einzelne von uns in sich selbst trägt und die im alltäglichen Leben wahrhaftiger ist als wir selbst: – die lebendige Summe von dem, was wir lernten, von dem, was wir zu sein glauben, und von dem, was wir zu sein wünschen.
Dieser Besucher ist uns beständig unbekannt, da wir es selbst sind und da er deshalb für uns kein »irgendjemand« ist; diesen Störenfried – der in seiner fortwährenden Anonymität lebendig und daher »unpersönlich« ist – müssen wir alle, aufgrund unserer Schwäche, zwischen dem Anfang und dem Ende eines Gedichts empfangen; eines vollkommen komponierten Gedichts, dessen Niederschrift uns aber nicht gestattet ist. Und es ist genau das, was von uns allen, großen oder kleinen Künstlern, wirklich überlebt – es sind Fragmente von etwas, das wir nicht kennen; das aber, wenn es denn existieren würde, der genaue Ausdruck unserer Seele wäre.
Könnten wir doch noch Kinder sein, damit es niemanden gäbe, der uns besucht, kein einziger Besucher, bei dem wir uns gezwungen sähen, ihn zu empfangen! Wir aber wollen nicht den warten lassen, der nicht existiert, wir wollen nicht den »Fremden« kränken – der wir selbst sind. Und so bleibt von dem, was hätte sein können, nur das, was ist – vom Gedicht, oder von den opera omnia – nur Anfang und Ende einer verlorenen Sache – disjecta membra, wie es Carlyle sagte, sind das, was von jedem Dichter oder von jedem Menschen verbleiben wird.
Aus dem Portugiesischen von Steffen Dix

Lissabon 1915: Im Hinterzimmer Europas plant man die Erneuerung der Dichtung aus dem Geist der Langeweile, während Fernando Pessoa Postkarten und Telegramme aus den Metropolen bekommt, wo man eine Kunstrevolution nach der nächsten feiert. Das ist seine Welt! Mit Freunden veröffentlicht er »Orpheu«. Die Zeitschrift ist in drei Monaten ausverkauft, es gibt Karikaturen und Satiren: ein Skandal.
Mit den von ihm erfundenen Kunstrichtungen Intersektionismus, Sensationismus, Atlantismus ist Pessoa in der Theorie reicher als Picasso. Steffen Dix hat uns einen Pfad durch die Welt der »-ismen« Pessoas gebahnt, wichtige Texte zum ersten Mal ediert und ins Deutsche übersetzt: ein einmaliger Einblick ins Geheimherz der Poesie.