Noch vor ein paar Jahren wäre ich um diese Zeit auch Richtung Süddeutschland aufgebrochen, weniger in Vorfreude als mit dem wehmütigen Gefühl, Berlin ausgerechnet jetzt verlassen zu müssen.
Lange Jahre hindurch bedauerte ich mich immer um den vierten Advent herum sehr: Jetzt wohne ich schon zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre in Berlin und habe doch noch kein einziges Mal Weihnachten in der Stadt verbracht!
Weihnachten in Berlin, das kannte ich nur aus den Erzählungen der echten, gebürtigen Berliner: Wie still die Stadt in den Tagen kurz vor dem Fest sei, was für eine schöne, ganz eigene Stimmung da über den leeren Straßen läge, so friedlich und ruhig wäre Berlin das ganze Jahr lang nicht.
Und man schwärmte vom Heiligabend mit den legendären Konzerten in der Berliner Volksbühne, wo Undergroundbands wie »The Fall« spielten, und wo man dann um Mitternacht die verschworene Gemeinschaft der »echten« Berliner treffen würde.
Ich hingegen hatte bis dahin mein ganzes Leben lang jede Weihnacht in Hügelsheim, einem kleinen badischen Dorf am Rhein, an der Grenze zu Frankreich verbracht. Es hatte sich einfach so ergeben. Als Kind und Jugendliche feierte man Weihnachten sowieso mit den Eltern, und als ich dann ab den Achtzigern in Berlin wohnte und erst mal keinen kannte, lieferte das Fest einen willkommenen Grund für den Besuch daheim und bei den alten Freunden.
Meine Geschwister hatten längst eigene Familien gegründet und verbrachten Heiligabend bei den Schwiegereltern in den Nachbardörfern, kamen höchstens spätabends noch bei ihrer Stammfamilie vorbei. Ich als Jüngste hatte zwar ein Kind, aber trotzdem keine »richtige« eigene Familie vorzuweisen und war deshalb immer bei meinen Eltern. Manchmal brachte ich einen Freund aus Berlin mit, aber nie zweimal denselben. Ich dachte oft an ein anderes Weihnachten: einfach in meiner Berliner Wohnung bleiben, sich mit Freunden treffen, abends ausgehen.

Weihnachten war oft anstrengend, es gab gerne Krach, und es waren meistens nur Momente, die gut waren. Aber die Eltern wurden immer älter und zerbrechlicher, unmöglich, mit der Weihnachtsautonomie gerade jetzt anzufangen. Dann starb die Mutter, der Vater blieb allein, natürlich musste man sich an Weihnachten um ihn kümmern. Und da ich immer noch keine eigene Kleinfamilie vorzuweisen hatte, war es selbstverständlich, dass ich den Vater an Weihnachten übernahm.
Dann, als beide Eltern nicht mehr lebten, gab es eigentlich keinen Grund mehr, im Dezember in das Dorf zu fahren – ich fuhr trotzdem. Wenn die Eltern nicht mehr da sind, werden die Geschwister anhänglicher.
Doch dann war es endlich so weit. Fünfundzwanzig Jahre nach meinem Umzug nach Berlin verbrachte ich Heiligabend zum ersten Mal in meiner Berliner Wohnung.
Es war großartig. In Ermangelung anderer Konzepte spielte ich mit meinen Gästen das Weihnachtsfest der Eltern nach, nur in anderem Dekor.
Endlich mit echten Kerzen! – Die Eltern hatten sich stets gegen das altmodische Zeugs gewehrt und seit den Sechzigern auf bunten amerikanischen Lichterketten bestanden.

Trotzdem wurde das Erfolgskonzept »Ironisch Feiern« nicht lange weiter geführt. Denn plötzlich kam Nachwuchs ins Haus, denn auch, wer nie eine Kleinfamilie wollte oder hatte, kann Oma werden und ist dann traditionell für die weihnachtlichen Rituale zuständig.


Christiane Rösinger, Liedermacherin und kritische Anhängerin des Eurovision Song Contest, fährt im Mai 2012 von Berlin nach Baku. Ohne Orientierungssinn und geographische Kenntnisse, aber mit einer seelenstarken Mitmusikerin und einem auf dem Gebrauchtwagenmarkt eilig erworbenen Fahrzeug. Sie begegnet bulgarischen Männern, die ihr Leben lang auf Ziegen starren, harrt aus im »einsamsten Frühstückssaal der Welt« und überschreitet in der Türkei die Cappuccinogrenze. Sie lernt, professionelle Auslandsdeutsche von Deutschen im Ausland zu unterscheiden, wird in Tiflis zum Bestandteil der Deutschen Woche und tritt endlich, nach 4800 staubigen Kilometern, auch in Aserbaidschan auf – weit weg vom offiziellen Sponsorenspektakel.