Erst mit 22 Jahren hatte er überhaupt davon erfahren. Von dem Dichter Manuel Bandeira, einem Freund seines Vaters, der – tatsächlich so, eher zufällig – ganz nebenbei »den deutschen Sohn deines Vaters« erwähnte, als Chico ihn mit den Musikern Tom Jobim und Vinícius de Morais besuchte. Man schrieb das Jahr 1967.
Chico kann sich nicht erinnern, seinen Vater, der im Jahr 1982 starb, jemals darauf angesprochen zu haben. »Wer war diese Freundin meines Vaters? Was war sie von Beruf? Was ist damals passiert? Hätte ich meinen Vater damals zur Rede gestellt, hätte ich vielleicht das alles erfahren. Aber ...« Er machte eine Pause, dann sprach er weiter: »Es gab keine Mauer, aber einen Vorhang, und ich wagte nicht, ihn zu lüften. Und meine Geschwister auch nicht.«
Der Historiker Sérgio Buarque de Holanda lebte in den Jahren 1929/1930 fast zwei Jahre in Berlin als Korrespondent einer Zeitung des einflussreichen Verlegers, Politikers und Mäzens Assis Chateaubriand. Zwar galt er schon als junger Mann unter seinen Kollegen als hoch gebildet, war aber noch kein berühmter Intellektueller. Sein Buch ›Die Wurzeln Brasiliens‹ erschien 1936. In einem Brief an seinen Vater vom Dezember 1929 (ein Jahr vor der Geburt des deutschen Sohnes) schrieb der junge Sérgio, dass sein Gehalt, das »Chatô« ihm zahle, nicht ausreiche und er sich deshalb eine zweite Beschäftigung gesucht habe: als Mitarbeiter eines deutsch-brasilianischen Handelsblatts. Er berichtete von einer Grippe, die ihn erwischt hatte, doch trotz all der Widrigkeiten habe er zugenommen: »Demnächst muss ich mir einen Anzug machen lasen (auf Ratenzahlung – hier macht man alles auf Ratenzahlung), denn der, den ich gekauft habe, ist der einzige, der mir passt.« Und er beendete den Brief mit begeisterten Worten über die Stadt und ihre Bewohner: »Ich fühle mich unglaublich wohl in Berlin. [...] Die Berliner sind das liebenswürdigste Volk der Welt. Die berüchtigte preußische Arroganz ist mir nirgends begegnet.« [...]
Das Buch, das 2012 geplant wurde, sollte nicht so sehr von dem deutschen Bruder handeln als vielmehr von der nicht endenden Suche nach dem Phantom-Bruder. Untrennbar davon »das vergebliche Werben um Aufmerksamkeit und Anerkennung seitens des Vaters, zu dessen Geheimnis der Erzähler vordringen will, so als erhielte er, wenn er es anspricht, den Schlüssel zu einem Tête-à-tête, in Augenhöhe, mit seinem Vorbild«, wie der Kritiker José Wisnik in der Zeitung ›O Globo‹ schrieb. [...]
Chico arbeitete schon am viertel Kapitel (das Buch hat 17), als er von Papieren erfuhr, die man in der Wohnung gefunden hatte, in der seine Mutter viele Jahre gelebt hatte. Maria Amélia starb 2010 im Alter von 100 Jahren, und die Wohnung ging über an Sérgio Buarque de Hollanda Filho, Sergito genannt, den Zweitältesten der insgesamt sieben Kinder des Ehepaars. Als er die Wohnung ausräumte, stieß er in der Schublade des ehemaligen Nachtschranks der Mutter auf eine Korrespondenz seines Vaters mit amtlichen Stellen der deutschen Regierung. Er übergab die Briefe Chico, und dieser ließ sie sofort übersetzen.
»Als ich anfing, dieses Buch zu schreiben, hieß mein Vater, das heißt, der Vater des Erzählers, Jorge. Ich habe es noch mit einem anderen Namen versucht, aber das ging nicht, er musste Sérgio heißen«, erzählte Chico. »Den Briefen habe ich entnommen, dass die Deutschen meinen Vater Sérgio de Hollander nannten. Den Namen habe ich dann verwendet.« Der Vater des Erzählers in ›Mein deutscher Bruder‹ ist das Alter Ego von Sérgio Buarque – ein hoch gebildeter und reservierter Mann, der seine Tage von Büchern umgeben in der häuslichen Bibliothek verbringt. Die Mutter des Erzählers hingegen hat wesentlich weniger Ähnlichkeit mit Chicos Mutter. Maria Amélia war Erbin einer traditionellen Familie mit Verbindungen zur Politikerklasse des Bundesstaates Minas Gerais. Die Mutter von Ciccio – so wird der Erzähler Francisco genannt – ist eine typische Neapolitanerin.
»Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dieses Buch noch zu Lebzeiten meiner Mutter zu schreiben. Meine Mutter hat im übrigen wenig zu tun mit der Mutter im Buch. Ähnlichkeit mit ihr besteht allenfalls darin, dass sie von meinen Vater wirklich fasziniert war. Sie half ihm, machte alles für ihn. Papa konnte nicht Auto fahren, aber sie hat sich ans Steuer des Käfers gesetzt und ist bis nach Paraguay gefahren, damit er in den Archiven des Paraguay-Krieges recherchieren konnte. Sie empfand höchste Achtung für seine Arbeit. Aber sie war keine Sklavin, so wie die Mutter im Buch. Sie hätte nichts dagegen gehabt, eine Italienerin zu sein, wie Assunta, die Mutter im Buch. Aber manche Dinge ...« Er holte tief Luft, dann sprach er weiter: »Meine Mutter war eine sehr aufmerksame, sehr genaue Leserin. Und sie las meine Bücher. Dieses Buch hätte ich nicht den Mut gehabt, ihr zu zeigen, ich hätte es vor ihr verstecken müssen. Natürlich hatte ich nach ihrem Tod weniger Hemmungen, das Buch zu schreiben«, sagte er und deutete ein Lächeln an.
Nach kurzem Schweigen nahm er den Faden der Erinnerung erneut auf: »Mein Vater starb, und sie lebte noch fast dreißig Jahre. Ich habe mich tausendmal mit ihr unterhalten. Und sie erzählte, vor allem gegen Ende ihres Lebens kamen weit zurückliegende Erinnerungen hoch, was mir beim Schreiben von ›Vergossene Milch‹ sehr geholfen hat. Darin steckt viel von ihrer Familie. Sie hat es gelesen, es gefiel ihr sehr gut, aber ihr war nicht ganz behaglich zumute«, sagte er, wieder lächelnd, dann: »Die Geschichte von meinem Vater und seiner Freundin kam in ihren Erinnerungen nicht vor. Diese Geschichte gefiel ihr nicht. Überhaupt nicht. Ich hätte sie darauf ansprechen können: ›Mama, was weißt du von Anne?‹ Aber ich habe nie gefragt.« [...]
Licht in das Dunkel kam wenige Wochen nach dem Auffinden der Briefe. Auf Empfehlung des Historikers Sidney Chalhoub von der Universidade Estadual de Campinas engagierte der Verlag Companhia das Letras dessen Kollegen João Klug, der über die deutsche Auswanderung nach Brasilien forscht und sich gerade für eine gewisse Zeit in Berlin aufhielt. Dieser wiederum brachte den deutschen Museologen Dieter Lange ins Spiel, den er seit 2003 kannte. Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit.
Sie fanden im Internet Hinweise auf einen Fernsehmoderator der früheren DDR namens Sergio Günther, der in den 60er und 70er Jahren recht beliebt war, ihnen aber völlig unbekannt.
Die Bestätigung, das dieser Sergio das von dem Ehepaar Günther [...] adoptierte Kind war, verdankten sie einem unglaublichen Zufall. [...]
Werner Reinhardt, ein pensionierter Journalist, erinnerte sich:
»Wie fast immer nach der Arbeit saß ich in der Vineria Carvalho und trank mit meinem Freund Manfred Schmitz einen spanischen Rotwein. Dieter Lange war dort auch Stammgast. An dem Tag setzte er sich zu uns an den Tisch und erzählte die faszinierende Geschichte von jemandem aus Brasilien, der nach seinem vor Jahrzehnten geborenen deutschen Bruder suche. Und er, Dieter, sei damit beauftragt. Ganz nebenbei fragte er, ob der Name Sergio Günther uns etwas sage.« Der Journalist machte eine Pause: »Natürlich konnte er nicht ahnen, dass hier Kommissar Zufall seinen großen Auftritt haben würde. Ich hatte Sergio sehr gut gekannt, ich habe in den 70er Jahren im selben Haus wie er am damaligen Lenin-Platz Nr. 1 gewohnt. Wir waren bis zu seinem Tod befreundet.«
Auszug aus dem Artikel der portugiesischen Zeitung ›Público‹, geschrieben von dem brasilianischen Journalisten Fernando de Barros e Silva (in Berlin).
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner

Rio de Janeiro - Berlin. Für Musikliebhaber und Liebhaber verrückter Lebensgeschichten. Der Brasilianer Chico Buarque, heute weltberühmter Samba-Sänger, steht am Anfang seiner Musikerkarriere, als er von seinem Halbbruder in Berlin erfährt. Dort lebte der Vater in den späten Zwanzigern und verschwieg, dass er fern von Rio einen Sohn hat. Also macht sich Chico selbst auf die Suche und findet die bezaubernd, verrückte Geschichte von Sergio Günther. Auch Sergio war Sänger, und zwar einer der bekanntesten der DDR. Mit brasilianischem Blick zeichnet Chico Buarque ein überraschendes und sehr persönliches Bild des ehemals geteilten Deutschlands.