
Kommentare
Warum bislang so wenig Aufmerksamkeit für dieses großartige Gedicht? Hoffentlich nicht deshalb, weil es nicht zum Schlüsseltext einer neuen "Ästhetik der Einfachheit" taugt. Eher vielleicht schon, weil es hilft, wenn man im Zuge der Lektüre zwei Bilder vor Augen hat, die im Anhang des Originals angegeben werden, hier aber fehlen: "wilder shores of love" ist ein Bild von Cy Twombly (z.B. hier zu finden: https://theartstack.com/artist/cy-twombly/wilder-shores-of-love). Das Meer, das an die Küste brandet, mal wild, mal mild, zwischen Tumult und Ruhe (Turmoil and Tranquility), bestimmt auch den vierten Abschnitt des Gedichts. Spätestens im sechsten der insgesamt acht Abschnitte ruft das Gedicht zudem Bilder von Jan van de Cappelle (17. Jhd.) auf. Wegen der hauchlosen Glätte, des tintigen Spiegels liegt es nahe, dass es sich um das Bild "calm" handeln könnte (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/75/Jan_van_de_Cappelle_...). In diese Bildwelten schreibt sich das Gedicht ein.
Eigentlich ist diese Poetik hochgradig internetaffin: Man liest diesen Text und links und rechts öffnet man die beiden Fenster zu den beiden Bildern. Hat man die drei Textbilder vor Augen, erschließt sich die Vorstellung, die dieses Gedicht trägt. Sie lautet schlicht und einfach: Seestücke sind zugleich Seh-Stücke. Die Bilder werden aber nicht nur angeschaut, sie schauen ihrerseits den Betrachter an: "soll mich das Bild versehen mit seinen Augen". Bilder vom Meer, von der See, sind dafür besonders geeignet, weil die in ihnen dargestellten Wellen mit den Lichtwellen korrespondieren. in der Überlagerung der gegenseitigen Betrachtungen lösen sich die vermeintlich klaren Konturen zwischen Land und See auf.
Zu dieser Blickführung kommen im zweiten Abschnitt die "Flug- und Fliehblicke" in die "rußige Dunkelheit" hinzu. Das ist eine Art metaphysischer Blick. In Jean Pauls "Flegeljahre" heißt es einmal: "Wina wirft Walt einen Flugblick voll Weltall zu." In dieses flüchtige, sich verflüchtigende Lichtspiel, das in die Vergangenheit entschwindet, schaut auch das Ich des Gedichts. Und im dritten Abschnitt kommt nicht zuletzt noch ein (imaginärer) weiterer Fensterblick zu diesem "Mischleben" aus sich überlagernden Bilder hinzu. Der Blick in den Garten: "Spukt doch im Garten / spuckt doch das Kehlchen mich an". Dieser Fensterblick ist zugleich ein Blick in einen Mundraum und eine Sprachöffnung: hinein in das Kehlchen, aus dem zungengewandt geschnippt und geschnalzt wird (im letzten Abschnitt wird dieser Zusammenhang wieder aufgenommen). Als wären die unterschiedlichen Bilder ihrerseits die Farben einer Palette, welche die poetische Malerin auf ihre weiße Leinwand aufträgt, setzt sich das Gedicht (wie das Bild so die Poesie) aus dem aufgeschichteten Farben-, Bilder-, Luft- und Lustspiel zusammen.
Vielen Dank, Christian Metz, für diesen Kommentar. Denn ich kannte am Anfang nicht die Ursache meiner Faszination für den Text. Allerdings ist Sprachlosigkeit, die aus der Ahnungslosigkeit kommt, in Zusammenhang mit Faszination nicht die schlechteste Reaktion auf einen Text. Aber Ihr Kommentar ließ mich Künstler googeln. Das erklärte mir den Text zwar nicht, aber steigerte meine Faszination. Ich werde dran bleiben.
Das Subjekt dieses Textes, das vom Bild versehen und ausersehen wird, versucht, sich in diesem Bild- und Klangraum zu konstituieren. Es handelt sich um Subjektpoesie, welche die alten Fragen nach dem "Ich" neu stellt: wie erstelle "ich" meine Identität, meine positioniere "ich" mich in der Welt, wie komme "ich" zur Sprache. Die politische Aussage ist schlicht, aber grundlegend: Die traditionellen Weisen dieser Selbstverständigung sind verbaut, verbraucht, obsolet. Eine neue Sprache, neue Wege der Subjektkonstitution müssen gefunden und erprobt werden. Aber nicht im Modus von "tabula rasa", alles wieder bei Null, sondern im neuen Arrangement des Materials. Deshalb schlägt das Gedicht einen Ton an, der befremdlich wirkt, unvertraut und faszinierend zugleich und schickt einen doch ins Bildarchiv, um "studium" zu betreiben und sich - wie vom Pfeil des Amors (punctum) - von ihnen berühren, ja verletzen zu lassen.
Die Meeresbilder in ihrem Tumult und ihrer Ruhe eignen sich für diese Erkundung des Subjekts besonders. Die Bilder sehen einen ja nicht nur von Außen an, mit ihren See-Szenarien. Das Meer ist zugleich ein Bild des gedanklichen und emotionalen Tumults und der Stille. Es sind Bilder des Innens. Bei Cy Twombly handelt es sich ja ausdrücklich um die "Shores of Love", die Küsten des vielleicht wirkmächtigsten Gefühls. Die aufgerufenen Bilder schauen als von Innen wie von Außen auf das Subjekt. Sie durchdringen den Körper, die Sinne von beiden Seiten. Oder anders gesagt: Im Kräftegleichgewicht der sich überkreuzenden Blicke und (Farb-)Töne konstituiert sich das Subjekt.
Man kann sich durchaus fragen, in welcher Konstitution dieses Subjekt ist, dass es auf den Anblick von Gemälden, auf die nächtlichen Flug- und Fliehblicken in das Dunkel der eigenen Vergangenheit und auf Fensterblicke so heftig reagiert. In der Psychologie gibt es dafür den Begriff der "Kryptästhesie", der äußerst sensiblen Wahrnehmung, die sich bis hin zur außersinnlichen Wahrnehmung erweitern kann. In diesem Zustand sind die Bild-Eindrücke im Wortsinn spürbar als taktile Eindrücke, die auf Körper und Sinne treffen. Eine solche Wahrnehmungsweise stellt das Gedicht seinem Leser vor Augen. Irritierend, fremd, aber durchaus in einer Tradition, die bis zu den Atomisten die Antike zurückreicht, als man sich Wahrnehmung als einen Akt von Berührung vorstellte.
Das klingt jetzt nach einer Sehnsuchtsreise, zurück in die Vergangenheit. Aber nein, auch dieses Gedicht hat ein Datum und schreibt sich klar in unsere Gegenwart ein. Diese übersensible optische Wahrnehmung und die Frage, welche Rolle der Körper dabei spielt, hat in der Bildwahrnehmung per PC- oder Smartphone-Welt höchste Relevanz. Obwohl der Ton grundlegend anders ist, setzt sich wie "im posteingang" von Tristan Marquardt auch "Vom Auge abgesehen" mit der Subjektkonstitution unter den medialen Bedingungen der Gegenwart auseinander. Nur hier ist ja das schnelle Aufrufen und Vor-Augen-Stellen der so unterschiedlichen zitierten Bilder möglich und um die Anspielung der Fensterblicke zu verstehen, muss man nicht unbedingt mit windows arbeiten. Eins vielleicht noch: Zu überlegen wäre, ob es hier nicht nur, aber auch um die Konzeption einer dezidiert weiblichen Sprache und Position geht. Hinweise darauf bietet der Text.