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Zwei Fragen ans Gedicht gerichtet: Zum einen, warum geht der Rabe "stolz" umher? "Ohne Eile" leuchtet ein; auch ohne Gedanken an "Nachfolgezwang", nun gut. Aber warum stolz? Wem gegenüber? Zum anderen: Ist Neuschnee nicht ausschließlich solcher, der fällt, wenn schon welcher fiel im selben Jahr? Was für’s Gedicht hieße: hier, im Herbst, hat schon welcher gelegen?
Wohin führt die Suche nach dem Neuschnee, auf die einen dieses Gedicht offenbar schickt? Wer verfügt nicht nur über das richtige Gespür für Schnee, sondern auch über das handfeste Wissen, dass dieser Text einfordert? Vielleicht die so betitelte "Schneekunde" des "Verbands deutscher Skilehrer"? Kein Witz. Dort heißt es: "Neuschnee. Definition: Neuschnee wird in einer Schneefallperiode abgelagert, ist noch nicht umgewandelt und die ursprüngliche Kristallform kann noch erkannt werden." Also nicht nur der erste Schnee, der im Jahr fällt. Und ist das nicht schön, dass Schneekenner vier Umwandlungsarten der Kristallstrukturen unterscheiden: ab- und aufbauende Umwandlung(Kistallvergrößerung, bzw. Verkleinerung) Schmelz- und Windumwandlung. Spuren für den noch kristallinen Schnee also hinterlässt der Rabe, mit seinen Rabenfüßen, die ebenfalls kristallin wirkenden Y-Struktur. Der Kristall des Textes ist das "er", das (den Titel ausgenommen) achtfach das Weiß des Papiers bedeckt - und noch ein neuntes Mal versteckt: der RabE, trägt als personifizierter Widerspruch mit dem ABER auch das "er" in sich. Da muss der "Stolz" als Geisteshaltung schon erlaubt sein. Der Stolz ließe sich vielleicht auch als Reaktion lesen, wie das symbolträchtige Tier mit Helge Schneiders genialbrutaler Todesverblödelung in "Ein Rabe ging ins Feld / da fiel der Weizen um" zurechtzukommen versucht.
Für die Schnee-Recherche besten Dank! Da sind wohl ebenen, die meine Frage noch nicht wusste. Die Begründung für den Stolz leuchtet mir hingegen nicht ein; übers Anagramm und der darin enthaltenen Enthaltung. Vielleicht ist meine fehlende Einleuchtung dem Misstrauen geschuldet – so still erscheint mir das Gedicht, so zurückgenommen; während der Stolz sich alles andere als zurücknimmt?
Aber ist es nicht schlicht eine Beobachtung? Habt Ihr schon einmal Raben gesehen, die NICHT stolz umhergehen? Und im Herbst muss er das tun, weil dies ein Fabel-Gedicht ist und also der Rabe durch unseren (bzw. den männlichen, denn zumindest im Literaturbetrieb sind es ja eher immer die Männer mit dem Nachfolgeproblem) Lebensabend schreitet. Also, der stolze Rabe ist das Tier. Den Herbst braucht man, um den Link zur Nachfolge zu haben, und dann ist der Rabe eben doch wieder das Gegenbeispiel zum Menschen, der sich armselig, unstoisch vom Nachfolgerzwang beugen und beuteln lässt und vor dem Tod davon hastet anstatt ihm Spuren zu legen. Das tut ja der Rabe schon als sein Bote.
Wenn alle Raben sowieso stolz umhergehen, dann handelt es sich in diesem Gedicht um eine Tautologie. Weil das Überflüssige gesagt wird, ragt es aus dem Fluss heraus und fällt besonders auf. Warum also die Überbetonung des Stolzes. Ich stelle mir das so vor. Wenn so ein Rabe in einem literarischen Text im Feld umhergeht, dann schaut er sich automatisch nach allen seinen berühmten Vorgängern um. Das ist der im Gedicht beschriebene Nachfolgerzwang (an den das Gedicht gemeinerweise erinnert, obwohl der Rabe ihn vergessen will). Zu wissen, dass man immer schon anderen nachfolgt. "Er" war immer schon da. Was sieht der Rabe unter den Vorbildern? Vielleicht darf man tatsächlich wegen der großen Auftritte in den Fabeln, aber auch bei Wilhelm Raabe oder Edgar Allen Poe davon sprechen, dass er auf eine fabelhafte Galerie von Ahnen zurückblickt. Zuletzt trifft er dort aber auch auf Doc Snyders Raben. Was für eine Demütigung für das sonst so selbstzufriedene Tier. Ist Demut nicht das Gegenteil zur superbia, zum Hochmut und zum Stolz? Jetzt die Reaktion des Raben (nachdem er nevermore geflucht hat, vermutlich): aufgesetzter, gespielter, tautologischer Stolz. Stolz, einst ja eh schon als Sünde gehandelt, wird als Attitüde ausgestellt und doch nicht einfach nur verlacht. Daher ist die Frage, die das Gedicht an seine Leser stellt: Wie steht es mit deinem Nachfolgerzwang?
Der Pole Tadeusz Różewicz pflegte noch die Wörter in seinen anfangs kargen Gedichten zu zählen. Später hat er damit aufgehört, und wurde recht üppig. Hier sind es 23, eine stolze, Różewicz’sche Zahl, Primzahl, Quersumme fünf. Das Gedicht ist selber so zackig-deutlich wie ein Klauenabdruck. Oder ein Strichmännchen. Zweimal für, zweimal ohne; einerseits »Nachfolgerzwang« (negiert), andererseits »Spuren«; einerseits (der nackte) »Tod«, andererseits der einhüllende »Neuschnee«.

