
Kommentare
Ein Sonett zum Thema "säge" hat es wohl noch nie gegeben. Was sucht dieser nicht ungefährliche, vor allem dem Alltag zugeordnete Gegenstand im gepflegten Gedicht? Aber sieh an, es geht - und wie. Nach einer schlanken Einleitung sind wir beim Piranha, dann im Nibelungenlied und plötzlich bei einer Kindheitsreminiszenz des Verfassers: im Zirkuszelt, wo der grosse Zauberer Zambonini eine Jungfrau entzweischneidet. Das Mysterium will nicht gedeutet werden. Und so zielt der Schluss des Gedichts nicht auf eine Pointe, sondern hält die Wahrheit anmutig in der Schwebe, dass nämlich "im wirbel des lichts / nicht etwas da war, aber auch nicht nichts". Aus der titelgebenden Säge wurde, o Wunder, ein Flaumgewicht.
Die Säge verbildlicht das Verfahren des Gedichts. Die Metaphorik beruht auf der sprachlichen Herkunft von "Säge". Im Mittelhochdeutschen liegt die Verwandtschaft von Säge, Sege und Sage noch offen dar. Auch das heutige Segel ist wohl mit der Säge verwandt. Es ist ebenso ein abgeschnittenes Tuch wie die Sage. Etwas sagen bedeutet also, das Sprachgewebe in einzelne Tücher zerteilen. Die Säge steht also für das Zerschneiden des Textgewebes, für den Schnitt in der Textur. Das Sonett, selbst in seine zwei Quartette und Terzette zersägt (Vers-Maßarbeit), arbeitet mit dem bunten Material verschiedenster Erzählstoffe. Wer etwas sägend sagt, schreibt sich in eine lange Tradition ein. Deren jüngste Auftritte auf der Bühne der Poesie? Lutz Seilers Poetikvorlesung in Heidelberg 2015 trug den Titel "Laubsäge und Scheinbrücke". Und als im Jahre 2009 mal wieder ein sogenannter "Sonettenkrieg" aufflammt, wirft Thomas Kunst seinen Gegnern vor, sie hätten "Laubsäge als Neigungsfach" belegt. Der Duft der Sägespäne ruft neben der Zirkusatmosphäre auch die Erinnerung des Sagens als Zerteilens wach.
Ein Flaumgewicht. Das ist schön. Aber Sägen-Sagen hin oder her. Ist das nicht ein merkwürdiger Gegensatz: trennen und gelingen? Das ist doch mehr als ein Verfahren, mehr als ein Zirkuskunststück. Das geht erst einmal davon aus, dass "trennen" landläufig "misslingen" heißt, oder? Passt ja zur neuen Bürgerlichkeit. Und das Gedicht behauptet nun das Gegenteil und sägt am scheinbaren Naturgesetz. Gerade heute, wo mühsam zusammengehalten wird, was gar nicht mehr zusammengehören will. Also eigentlich ein Gedicht zur Lage der europäischen Nationen? Dann hat Papan es am besten erfasst.
Die Säge hat es uns ja angetan. Aber was kann einer Säge denn gelingen außer dem glatten, sauberen Schnitt? Der ist viel Wert, vor allem wenn man an sein Gegenteil denkt. Dann splittert das Material, es wird nicht nur verletzt, sondern entstellt und gibt deshalb unschöne Töne von sich. Die Säge singt oder sie kreischt. Andere Tonlagen kennt sie nicht. Wie ein Enjambement. Auffällig, dass dieses synästhetische Gedicht die Morgensonne "rieseln" lässt, als wäre sie durch den Häcksler geschoben worden, aber keine Töne aufruft. Alles, was geschieht, geschieht offenbar in Stille. In München gibt es eine Zambonini-Straße, benannt nach einem Tenor des siebzehnten Jahrhunderts. Komponiert haben soll er auch. Vielleicht war ja auch ein Solo für Säge darunter.
Warum das Trennen und Vereinen gegeneinander ausspielen? Sie gehören doch zusammen, sind dialektisch ineinander verschränkt. Trennen steht daher auch nicht auf der Seite des Misslingens. Unterscheiden ist eine grundlegende Verstandestätigkeit. Wer verbinden, kombinieren will, muss immer zugleich differenzieren. Die Säge - das ist ja der Witz - steht für den Scharfsinn und die Kombinationskunst gleichermaßen. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik: "man könnte auch Witz den sinnlichen Scharfsinn nennen und Scharfsinn den abstrakten Witz." Wenn schon die Zirkusnummer "Europa" (was mir bei diesem Gedicht aber zu schnell ginge), dann in der Fähigkeit, im exakten Erkennen der Unterschiede zu vereinen. Nicht einfach die Unterschiede - wie so häufig mit Sägespäne - unter den Tisch kehren. Was das Gedicht ausstellt, ist also nicht "nur" ein Verfahren, sondern eine bestimmte Art des Denkens. Dieser Denkstil ist sicherlich nicht auf das Feld der Lyrik beschränkt, sondern beansprucht seine kombinatorische Schärfe auch im Politischen, Sozialen, Wirtschaftlichen.
Apart! Wäre es ein Bild im Museum, hätte es einen schönen Rahmen, die Kenner stünden davor und würden sagen: apart!
Daniel Heinsius (1580 - 1655) fängt sein Sägegedicht so an:
Semper reciprocanda serra.
Non satis est fastus semel aut maledicta tulisse:
Assidue, ut vincas, hæc repetenda tibi.
(habe ich gerade in der Mache)
Eine der vornehmsten Tischleraufgaben ist es in meinen Augen, ein Ding vor mich wiederhinzustellen, zu sagen „Ihr Tisch, bitte!“ und mir dann das Wiedererkennen zu schenken – des Tischs, der Mühe, des Begriffs, des Worts. Und ich setze mich dann. Und stelle mir manchmal vor, wie es gewesen sein mag für diesen tatkräftigen Menschen, das Sägen, Einpassen, Zusammenleimen und Probesitzen, Probeabstellen und -verschütten.
Das Sonett von der Säge hat es vermocht, mich in den letzten Tagen immer wieder über das Sägen, die Säge, das Säg- und Sagbare nachdenken zu lassen. Ein schönes Glück, herausgesägt aus dem Irrsinn der Zeit. Eine der vornehmsten Widerstandshandlungen des Dichters ist es in meinen Augen, die Dinge in ihrer Unwirklichkeitsneigung aufzuhalten. Dem Sonett „säge“ gelingt das durchweg, am eindringlichsten aber in seinem Couplet, wo es wohl nicht zufällig neben das Metrum sticht.
Der Kommentar von Mirko Bonné schiebt sich mir gerade vor das verhandelte Gedicht. Ich stimme überein, dass es wertvoll ist, die Gegenstände, mit denen wir umgehen, zu beachten, zu würdigen, zu untersuchen. Die meisten bekommen ihren Tisch ja nicht maßgefertigt vom Tischler, sie kaufen ihn irgendwo. Seine Bestandteile, wie die unserer Kleidung oder unseres Essens, weisen womöglich in die ganze Welt. Fremde Menschen sind beteiligt, in der Regel gehen sie ihrer Arbeit nicht nach, um ihre Vornehmheit auszuleben, sondern um sich zu ernähren, zu Arbeitsbedingungen, die unterschiedlich sein mögen, so wie die Erdteile und Gegenden, in denen sie sind. Gegenstände so zu sehen, führt freilich nicht zum "schöne(n) Glück, herausgesägt aus dem Irrsinn der Zeit", eher zum Gegenteil. Aber ist das nicht Manufactum-Biedermeier, was Bonné da ausruft? Mit Tischleraufgaben, die verschiedene Abstufungen des Vornehmseins kennen und Widerstandshandlungen, denen ebendies auch gegeben ist? Geht es darum in den Künsten des 21. Jahrhunderts? Edles Handwerk mit guter Tradition, Veredelung, schönes Glück? "Ihr Tisch, bitte"?
Mein erstes Problem: "wo beides wahr schien", also das unterschlagene "zu sein". Die Glühbirne in einer Lampe scheint, die Sonne scheint usw. Aber "es scheint wahr" ist ohne "zu sein" schludrig.
Mein zweites Problem: "Sägen" Piranhazähne? Sigurds Schwert tut es ganz sicher nicht, es schlägt und, wenn's scharf ist, schneidet. - Dann semantisch: "wo beides wahr zu sein schien" - mit "beidem" können an sich nur die Teile gemeint sein, also die voneinander scheinbar getrennten Ober- und Unterkörperteile; aber inwieweit sind die dann "wahr"? "Wahr" ist ein Wort, das Aussagen bezeichnet, Körper sind "wirklich" (oder sind es nicht), es sei denn, es wird ein emphatisches "wahr" gemeint, wie ich es aus der Frankfurter Schule kenne: Wahrheit gegen (falschen) Vorschein. Ok. Nur auf was wird diese Emphase angewendet? Ist mir unklar.
Formal: 11er zu 10er (weibl/männl); Vers 1 der Strophe 2 aber 9er - warum, bzw. wozu? - Die Zeilenbruchtrennung von "Bryn" zu "hilde" kommt mir gewollt vor, ohne daß sich mir allerdings der Grund des Wollens erschließt. - Ferner: Weshalb in den Terzetten viermal weibl. und (nur des Reimens halber?) am Ende zweimal männl.? Meinem Formgefühl nach müßte so etwas vorher vorbereitet werden, formal.
Aber auch "bildlich" erschließt sich mir der Übergang von der aufs Bett "rieselnden" Sonne (an sich schon, für mich, eine schwierige Assoziation) zur mit Sägespänen bedeckten Zirkusarena nicht, wobei ich auch nicht sehe, daß Sägespäne "rieseln"; etwas anderes wäre womöglich Sägestaub: Er ließe sich zumindest durch den Staub, der in hereinfallendem Licht flirrt, mit der offenbar Aufwachszene verbinden; nur rieselt der halt auch nicht, sondern schwebt.
Ich greife mal das zweite Problem heraus: Die Zähne der Säge tragen ja schon zum Sägen bei, sie werden mit Piranhas oder Piranhazähnen verglichen, die zum Trennen und Verbinden tauglich scheinen. Sigurts Schwert tut es ganz sicher nicht, aber das wird ja in dem Wie-Vergleich auch nicht behauptet, da geht es doch ums Schimmern? (Die Zeilenbruchtrennung gefällt mir auch nicht wirklich, ich finde sie etwas kokett-unschön, aber sie lässt sich legitimieren, da es ja ums Sägen, Zertrennen geht).
Na ja, aber Piranhas "sägen" meines Wissens nicht, sondern sie reißen heraus. Und was Gran anbelangt, so wird der Vergleich mit der Säge über den Titel hergestellt und über das Schimmern/Glänzen befestigt, das sich überdies auf Heft und Blatt bezieht; es ist mithin ein Binnen-"Wie". Ich glaube, daß Gedichtbilder auch k o n k r e t stimmen oder zumindest eine Evidenz haben müssen, die eine/n gar nicht erst fragen läßt. Außerdem trennte Gran, ohne etwas zu tun; das Schwert lag nur zwischen den Leibern: eine so nur symbolische Grenze, daß sie sich in den Heldenliedern später wieder aufhob, geradezu aufheben mußte. - Aber das wäre eine andere Interpretation eines anderen, hierhin halt unbegründet zitierten Stoffes.
Deine Legitimierung des Zeilenbruches kommt mir ebenso das Unscharfe mit Freundlichkeit schärfend vor.
Nun ja, Schludrigkeit. Das ist doch eine Korinthe, die sich hier auftut. Im Mündlichen zumindest ist diese Form der Regelform doch gang und gäbe, ›wie mir scheint‹. Dem muss man es nicht unbedingt heimleuchten, sonst führt es ins Gestelzte.
Für das meisterhafte Ineinanderschneiden von literarischen und anderen Splittern hätte es den Verweis auf die Säge eigentlich gar nicht gebraucht. Das machen Gedichte auch sonst und fast kommt mir vor, daß in diesem Gedicht mehr Brüche als Schnitte zu gewärtigen sind, von einer Sägeszene zur nächsten (Piranha - Brunhild - Zambonini). Dieses „und plötzlich“ zum Beispiel ist ein etwas zäher, gar nicht zersägender Übergang in das nächste Bild. Auch in der letzten Strophe wird kein Werkstück präsentiert, sondern metaphysisch spekuliert, wenn, was „wahr scheint“ gegenübergestellt wird dem, „was war“. Durch diese Dimensionen fährt oder führt die Säge genauso hindurch, den Wahrheitsbegriff nimmt das Gedicht also nicht so genau, eher sprachspielerisch.
Die Verwandtschaftsbeziehungen von Sagen, Segeln und Sägen sind schon sehr aufschlußreich. (Fast könnte Säge ein seltsamer Plural von "Sage" sein...) Aber auf einer nicht kognitiven, nicht metaphorischen Ebene bleibt die Trennung doch wohl mit einem Schmerz verbunden, den die geistreiche Volte nicht gleich zum Text zusammenflickt. Und wenn das Sagen/Sägen als Teilen und Neuverfügen wirklich das Verfahren des Gedichts beschriebe, könnte da nicht ein bißchen mehr riskiert werden als nur ein Strophenbruch wie „bryn- //hild“? Das Gedicht will das aber doch gar nicht und stellt es für mich auch nicht aus. Es stellt einfach diese Bilder hin, im Grunde recht assoziativ und geeint mehr durch das Gedächtnis des Sprechers, als durch die Triftigkeit, mit der darin das Sägen anschaulich würde. Zähne sägen in der Tat nicht und auch eine Klinge ist eben eine Klinge und keine Säge. Die einzige Säge ist die Säge am Ende, die Säge des Magiers, die keine "wahre" sein kann, sonst könnte die Frau aus dem ganzen Unternehmen nicht unverletzt hervorgehen.
Ein solches Sägen, bei dem kein Blut fließt und keine Späne fallen, nur ihr Duft sich bemerkbar macht, ist doch eine sehr "diskrete" Angelegenheit, und zwar sowohl im ursprünglichen Sinn des Schneidens als Unterscheiden, des „weisen Maßhaltens“ (Wikipedia) usw., als auch im heutigen Sprachgebrauch der verschwiegenen Noblesse. Der Dichter sympathisiert mit dem Illusionisten, der sich nicht in die Karten blicken läßt. Aber wie viel Geheimnis verbirgt er, und wie viel hat er selbst durch den Trommelwirbel erzeugt?

