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Die Geschwindigkeit von hundertvierzehn Gedichten zog vorüber. Was an dieser Stelle nur mitgeteilt sei. Optimistisch schätzten Redakteure meine Lesegeschwindigkeit ein. Ich komm nicht mehr hinterher; die zweite Runde zog vorüber, da war ich noch in der ersten. Inzwischen begann die vierte. Während obiges Gedicht, aus der dritten Runde, das erste wieder war, was ich las.
Und recht glücklich damit wurde. Wie sich Silbe für Sülbe die Laute voran- und von dannen tastet (Achtung: Singular! Die Laute!). Was wäre sonst zu sagen? Dass mich meine Bilder trügen? Sie trugen mich – eine Küche, die ich kenne; der Schrank, mit den Zuckerwürfeln, die ich jeden Morgen … ob es die Küche noch gibt?
Auch erinnerte mich wieder obiger Rhythmus (gehobene Endsilben, die nicht mal am Ende stehen müssten und müssen) an Erb (entschránkt!), aber die GIFs schließlich verrieten andere Autorenschaft! Machten zudem die Bewegung des ganzen oder gesamten Gedichts sinnlich – GIFs eben: zitternd voran, tastend, weder Stand- noch bewegtes Bild. Erinnern eben?
Wie gesagt, war glücklich. Obiges Gedicht – wie ein Freund sagte – "kann was". Ja – was? Aber muss nicht weiter benennen, benamsen. Mag’s.
"Bunte Tuben“ gab es einmal, sehr raffiniert, bei Brigitta Falkner; die Tuben drückten sich dort anagrammatisch aus; hier manifestiert sich ein ganz anderes Szenario. Ist es ein Kinderzimmerwiedergänger, der von seinen Eindrücken berichtet, beim Lokalaugenschein in der untergegangenen Welt der Panini-Alben, Zuckerlpapiere, Spielzeugschatullen, Fotofaszikel usw.? Ablagerungen allerorten, lange verschlossene, sich selbst überlassene Räume, in die man sich hineinversetzen könnte, aber vielleicht nicht sollte, die außen klein und innen dunkel sind, aber es ist eben ein Dunkel, das keiner sieht. Das ist ohne Zweifel ein poetischer Topos, wogegen das Arrangieren von Dingen zum Stilleben wohl eher ein bildkünstlerischer ist. Der sprachliche Zugang aber hat den Vor- und Nachteil, in der Wortwahl bereits eine Haltung zu offenbaren. Hinzu kommt das Unvermeidliche: Sobald man sich das, wovon man sich trennen will, näher besieht, gewinnt es nie geahnte Qualitäten, fuchtelt plötzlich mit einer ephemeren Schönheit oder droht gar mit einer Seele, und was machen überhaupt diese ganzen Dinge, wenn sie für sich sind? Ein Szenario, das an "Toys" erinnert, diese Spielsachen, die nicht mehr mitspielen, gedemütigt durch Liegenlassen, sich verbrüdern, um eine Verfassung ringen. Die Verlassenheit von Plastik, das zähe Widerstandleisten des Kaugummis gegen den eigenen Zerfall, das sture Überleben überflüssiger Gegenstände, die die materielle Welt bedeuten. Das Altern kurzlebiger oder sowieso nur zu einmaligem Gebrauch bestimmter Gegenstände verbreitet eine dezente Melancholie. Zur Bewohnbarkeit einer Wohnung gehört schließlich auch, daß die Gegenstände sich verpflichten, mit Gespenstern nicht zu paktieren, kein Eigenleben zu entwickeln. Ein Leser aus meinem Bekanntenkreis wurde Zeuge des Einsturzes seines Bücherregals: erst lösten sich die Schrauben, dann knarzend die Bretter, dann fiel alles krachend zu Boden. Niemand war schuld, der Geist war einfach zu schwer geworden. So können die Archive uns überraschen, unter sich begraben gar. Weniger dramatisch ist es, wenn eine Motte plötzlich aus dem Schrank geflogen kommt, eine Badewanne übergeht, eine Pizza im Ofen vergessen wird. Und wer hat schon einmal Obst in ein Album geklebt? Das organische Verrotten steht in der Regel quer zum liebevollen Aufbewahren: Dieter Roth hat diese Grenze nicht anerkannt. In der digitalen Welt sieht es anders aus, milbenfrei, patinalos und platzsparend, ein Vorteil für zukünftiges Hinterlassenschaftsbearbeiter, schon jetzt findet mein Sohn, eine Zeitung aus Papier läge sehr sperrig und viel zu flatternd in der Hand, und wie verhält sich der poetische Raum überhaupt zum Digitalen? Wird es sich bald umdrehen und es werden mehr Metaphern aus der digitalen Welt in die analoge schwappen (wie hier, wenn die Bündel papierenen Bilder plötzlich mit GIFs verglichen werden), während die Konventionen zum Verständnis „analoger“ Metaphern abhandenkommen, weil die betreffenden Gegenstände aus unserem Horizont verschwinden? Wie viele Jahrzehnte dauert so etwas? Oder laden sich die Metaphern dann wieder auf an der Literatur? Sonderbare Fragen. Reinhard Priessnitz Titel "Wischung“ kann ich jedenfalls nicht mehr lesen, ohne an den Display zu denken, über den Priessnitz nie gewischt haben kann. In einem Buch von Xaver Bayer versucht der Protagonist, eine reale Fliege mit dem Cursorpfeil vom Monitor zu verscheuchen, aber der Fliege ist die Mausbewegung wurscht, sie braucht eine Hand, um das Feld zu räumen. Sagt das etwas aus? So projizieren wir ständig von einer Welt in die andere, machen „fort-da“-Experimente mit Präsenz oder erfahren Stofflichkeit durch Virtualität mit einem Mal als stofflicher, wie das Ich dieses Gedichts, wenn ihm die "entwickelten Körnchen" bereits eine Erwähnung wert sind. Überhaupt wird hier zur Sicherheit gleich alles doppelt oder pleonastisch gesagt, damit es auch wirklich - in der Vorstellung - real wird: das "vorgewandte Zurückblicken“, das „dringlich drängen“ usw. Und wie die Pointe am Ende deuten? Die geballte Materialität des Analogen läßt den Menschen zum Bild erstarren? Aber in welcher Welt steht er nun und durch welche Kulturtechnik wäre er wieder zu erlösen?