Unter Mao Zedong gab es weder Grundherren noch Kapitalisten. Ab 1949 galten beide Gruppen als Repräsentanten der Ausbeuterklasse. Das Land der Grundherren wurde im Zuge der Bodenreform beschlagnahmt, die Betriebe der Kapitalisten weitgehend verstaatlicht.
Mein Großvater väterlicherseits besaß ursprünglich über ein Dutzend Hektar Land, das er von seinen Vorfahren geerbt hatte. Aber ihren Fleiß und ihre Sparsamkeit hatte er nicht geerbt, er gab sich seinen Vergnügungen hin und verkaufte jedes Jahr ein Stück Land, so dass 1949 schon fast nichts mehr davon übrig war. Auf diese Weise hatte er sich auch vom Status eines Grundherrn befreit, während die neuen Besitzer seiner Felder in den folgenden langen Jahren als Grundherren unentwegt am Pranger standen und selbst ihre Kinder und Kindeskinder auf der Straße nur noch mit gesenktem Kopf umherschlichen. Mein Vater und ich hatten Glück. Wir müssen meinem Großvater dafür danken, dass er so ein liederlicher Geselle war.
In den Zeiten materieller Not, wie sie unter Mao herrschte, waren alle arm – und am ärmsten waren die vormaligen Grundherren und Kapitalisten. Diese allgemeine Armut brachte eine soziale Gleichheit mit sich, in der es keine Klassen und erst recht keine Klassengegensätze und -kämpfe mehr gab. Und dennoch schrien wir Tag für Tag: »Vergesst niemals den Klassenkampf!«
Auf den Mauern in Stadt und Land war dieser Slogan in ganz China allgegenwärtig. Wenn wir tranken, sahen wir ihn auf den Tassen; wenn wir auf Toilette gingen, sahen wir ihn an den Wänden; selbst wenn wir uns schlafen legten, entkamen wir ihm nicht, denn er starrte uns von unseren Kissenbezügen entgegen, so dass wir den Klassenkampf auch in unsere Träume trugen.
Das heutige China hat mit dem maoistischen China kaum noch etwas gemein. Die Klassen sind zurückgekehrt und mit ihnen der Kampf, und überall begegnen uns wahre Geschichten, die von einer Gesellschaft zwischen den Extremen handeln.
Als eine Tellerwäscherin in einem Fünfsternehotel dabei erwischt wurde, wie sie die Essensreste der Gäste als Leckerei für ihren studierenden Sohn nach Hause mitnehmen wollte, wurde sie mit der Begründung entlassen, sie habe Hoteleigentum entwenden wollen. Trauriger als der Verlust ihrer Arbeit stimmte sie die Verschwendung: »Was für eine Sünde, dass ich all das gute Essen wegschmeißen sollte!«
In einer anderen Stadt lud ein Unternehmer drei Gäste in einem Hotelrestaurant zum Essen ein. Ihr Gelage verschlang mehr als zweihunderttausend Yuan, also rund dreißigtausend Euro. Dass der Unternehmer die Rechnung mit seiner Kreditkarte begleichen wollte, war der Hotelführung nicht geheuer, und so bestand sie darauf, dass er alles in bar bezahlte. Nach einigem Hin und Her rief der Boss einen seiner Untergebenen an und befahl ihm, in einem Auto zweihunderttausend Yuan herbeizuschaffen – in Ein-Yuan-Scheinen. Daraufhin stellte das Hotel notgedrungen all sein Personal ab, um die zweihunderttausend Scheine zu zählen. Währenddessen machte es sich der Unternehmer auf einem Sofa gemütlich, blätterte in einer Zeitschrift und kommentierte süffisant: »Für mich ist die Rechnung ein Klacks – und für euch?«
Um ein anderes Beispiel zu nennen: Anfang Januar 2014 präsentierte die oberste Staatsanwaltschaft ihre Erfolge im Kampf gegen die Korruption: Von Januar bis November 2013 wurden 36.907 Personen wegen Bestechung und Korruption in 27.236 Fällen – 21.848 davon schwer – vor Gericht gestellt. Dabei ging es um eine Gesamtsumme von 5,51 Milliarden Yuan. Die Behörde erklärte bei dieser Gelegenheit ihre Entschlossenheit im Kampf gegen die Korruption.
Doch als im April 2013 Yuan Dong aus der Stadt Xinyang in der zentralchinesischen Provinz Henan und seine drei Mitstreiter im Pekinger Geschäftsviertel Xidan ein Transparent entrollten, auf dem sie die Offenlegung der Vermögen von Regierungsbeamten forderten, wurden sie unter dem Vorwurf einer illegalen Versammlung unter Strafarrest gestellt. Damals verlor kein Regierungsvertreter ein Wort über den Kampf gegen die Korruption.
Im Zuge der tiefgreifenden Umwälzungen, die China in den letzten über dreißig Jahren erlebt hat, haben die Verwerfungen der allgemeinen Entwicklung eine Kluft zwischen Arm und Reich aufbrechen lassen, und die wuchernde Korruption hat einen anhaltenden Konflikt zwischen Regierung und Volk geschürt. Die chinesische Gesellschaft sieht sich in lauter Klassengegensätze und -kämpfe gestürzt, aber der Slogan »Vergesst niemals den Klassenkampf!« ist verschwunden. An seine Stelle sind zwei andere Schlagworte getreten: »harmonische Gesellschaft« und »Stabilität geht über alles«.
Denn so krisengeschüttelt, wie die chinesische Gesellschaft ist, würde das Regime, wenn es heute noch den Klassenkampf im Mund führen würde, sich damit sein eigenes Grab schaufeln. Der Slogan »Vergesst niemals den Klassenkampf!«, der einst wie Donnerhall überall ertönte, ist sang- und klanglos verschwunden, um in einer anderen Welt, bei Mao, Zuflucht zu suchen.
Und so hat China in den letzten sechseinhalb Jahrzehnten eine groteske Geschichte des Klassenkampfes geschrieben. Früher, als wir keine Klassen mehr hatten, hielt die Regierung das Volk unaufhörlich zum Klassenkampf an. Heute, da wir wieder Klassen haben, fordert die Regierung das Volk auf: »Vergesst den Klassenkampf!«
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Yu Hua ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas. Seine Bücher haben sich in China Millionen Mal verkauft. Dass sein neues Buch ›China in zehn Wörtern‹ von den Chinesen verboten wurde, liegt weniger an seiner Kritik am heutigen China als an den Parallelen, die er zwischen der Kulturrevolution und dem neuen kapitalistischen System zieht. Wie zu Zeiten Mao Zedongs, sieht Yu auch heute Unmenschlichkeit und Gewalt. Der Großteil der chinesischen Gesellschaft profitiert nicht vom Wohlstand, sondern wird auf brutale Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die persönlichen Essays lassen aber auch Yus Verbundenheit zu seinem Heimatland erkennen. ›China in zehn Wörtern‹ wirft einen ganz anderen, einen neuen Blick auf ein Land, von dem noch viel zu erwarten ist.