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Fünfzehn dreizeilige Strophen oder ein Gedicht mit epischem Atem, das die Bibliothek von Alexandria als Sinnbild universalen Wissens imaginär aufblättert. Wobei es weniger um die zahllosen Schriftrollen über Feldzüge, Liebeskunst und Reisen geht als um einen Raum zur Aufbewahrung "schattichter Seelen" und "leeren Scheins". Hier liegt das Herz der einst weltberühmten, dann grausam zerstörten Bibliothek. Denn hier lernt man, die Fallen in den Schriften aufzuspüren und "die leere Stelle des vollkommenen Katalogs" zu verstehen. Das klingt borgesianisch mit orientalisch mystischem Einschlag. Statt ein Klagelied auf das unwiederbringlich Verlorene anzustimmen, erklärt der Dichter den Mangel zur Schule des Sehens. Kein schwacher Trost.
In Pandoras Kasten ein weiteres Kästchen, worin als letzte nicht die Hoffnung mit niedlichen Flitter-Flügelchen hausiert, sondern – was genau? Eine Dunkelkammer (mit Öllampen bestückt), ein Denkverließ, ein Chiaroscuro, ein schwarzes Loch, die Oubliette in Schloss oder Festung, wo sich die angestrengten Augen und der angestrengte Kopf erholen oder weiter anstrengen dürfen. Ein Nichts – bei Celan, »ein Genicht« – worin sich alles andere spiegelt und sortiert.
Das Gedicht betritt ein Haus, das es nicht gibt. Einen Topos, einen Gemeinplatz, an dem man sich früher traf, der in das kulturelle Gedächtnis eingegangen ist, und jetzt qua Erinnerungskunst wieder aufgerufen werden kann. Hier spricht ein Nachfolger von Simonids, jenem Erfinder der Mnemotechnik, der seinerseits empfahl, das Wissen an Orten abzulegen, die man dann im Zuge der Erinnerung ablaufe, als beträte man ein Haus und schreite nach und nach dessen Zimmer ab, um die einzelnen Gegenstände aufzulesen.
Das Erinnerungshaus ist in diesem Fall die berühmte Bibliothek von Alexandria. Sinnbild der politischen Macht, da sie von Herrscher zu Herrscher um einen Anbau erweitert wurde. Das Gedicht durchstreift ihre Bestände zügig, als würde es sich von der Masse der Besucher mitziehen lassen. Schon nach sieben der 15 Strophen kommt es in dem Raum an, der den größten Zuspruch erfährt. Tatsächlich, so groß kann man sich das Interesse am Schattenreich vorstellen? Das Besondere besteht darin, dass das Gedicht sich die folgenden 8 Strophen Zeit (und Raum) nimmt, um die Geschehnisse und die Ordnung dieses Raumes aufzufächern. Er ist weniger das Herz der Bibliothek als vielmehr der Raum, der von der Systematik nicht erfasst wird: der Katalog listet dieses Gebiet nicht auf. Es ist der Unort im memorierten Hausbau. Der Schatten im Schattengebäude. Es ist der Ort, der (selbstreflexiv) als Raum der Kunst definiert wird. Es ist das Gedicht selbst. Raum und Gedicht führen aber nicht einfach nur ein Schattendasein. Sie sind, obwohl sie sich ja der funktionalen Systematik entziehen, ihrerseits funktional: Sie bilden den Raum der Blickschulung. Damit sind sie aufklärerisch, ja beinah schon didaktisch ein Raum, der statt des Wissens selbst die Kunst des Verstehens vermittelt. So wird im Rückgriff auf die untergegangene Bibliothek die Funktion der Poesie im System des Wissens definiert. Ob diese besondere Position samt ihrer Aufgabenstellung zeitgemäß ist, wäre erst noch zu überlegen.
Der "Spezialist für die Lichthaut ums dunkle Herz". Die "Lichthaut ums dunkle Herz", ist sie nicht das Zentrum des Raums wie des Gedichts, tief im Inneren verborgen? Das Herz aber, was ist es für ein Organ? Denkt es tiefer als der Verstand? Denkt es gar nicht, weiß es nur? Und das "dunkle Herz": ist es melancholisch, unwissend, lebensmüde? Wird es geschützt durch die "Lichthaut" oder verharmlost oder schützt die "Lichthaut" VOR der Dunkelheit des Herzens? Die "Lichthaut ums dunkle Herz" führt jedenfalls weiter, tiefer und hinaus aus dem Reich der Definitionen, des Wissens und der Erinnerung.