Ja, Scheitern … Scheitert denn ein Schriftsteller nicht immer? Obwohl dieses Wort als solches kaum benutzt wurde, zählte es doch zu den Kerngedanken einer lebhaften Diskussion darüber, ob man über die Flüchtlingskrise schreiben sollte und wenn ja, wie dies machbar wäre, ohne kitschig und unglaubhaft zu werden. Ja, ohne dass man scheitert. Als Fridolin Schley die Frage stellte, ob man den Antrag, über ein bestimmtes Thema zu schreiben – Flüchtlingskrise –, annehmen sollte, wenn man selber Zweifel hat, erwiderte Nora Bossong ganz konkret: »Wir trauen uns nicht mehr, groß zu denken.« Juan S. Guse aber, der selbst einen Abschnitt aus einen Kurztext vorlas, wo zwei alte Freunde während eines mehrtägigen Computerspielmarathons verwahrlosen, sagte zu der Diskussion über die Flüchtlingskrise, dass »dieser Raum eine Scheinwelt« sei und was eben stattfinde, banal sei.
Auf irgendeine Ebene ist Literatur fast immer banal. In der Literatur nämlich geht es ja immer um die Menschen – auch wenn in einem Text kein Mensch vorkommt, als Schriftsteller und Leser sind Menschen ja immer präsent – und die Menschen sind nun einmal banal. Oder nehmen wir uns nur als banal wahr? Daniel Grohn führte aus, dass ein zentraler Begriff seines entstehenden Textes »Wahrnehmung« sei – kann eine imaginäre Situation als wahrer gelten als eine wahrlich wahre Situation? Ja, was ist das überhaupt, das Wahre?
Zu kompliziert. So war es eine gute Idee, neben Daniel Grohn Patrick Findeis vortreten zu lassen – laut des Moderators Jan Brandt sei Findeis »ein Meister der Tristesse«, der so gut wie kein anderer »die Provinzhölle« beschreiben könne. Auch eine Wahrnehmungssache. Und auch eine Sache des Scheiterns, denn wer fühlt sich wohl, in einem Dorf? Ein Verlierer? Oder geht eben der Verlierer, derjenige der im harten Dorfleben scheitert, weg in die Anonymität der Großstadt? Schwer zu sagen. Findeis äußerte auch selbst, dass er gar keine »Provinzhölle« beschreiben wolle, denn »die Leute da führen ein gutes, aber doch trostloses Leben.« So ist es nun mal … Aber nicht nur in einem Dorf, sondern gewissermaßen überall. Denn, so Findeis: »Berlin ist ja auch ein Dorf.«
Wieder eine Wahrnehmungssache. So gesehen – was ist denn keine Wahrnehmungssache? Daniela Krien und Heinz Helle haben als Debütwerke beide Liebesromane geschrieben. Für Krien war es existentiell und persönlich, denn Liebe sei »das Urthema schlechthin«. Helle hingegen sagte, dass er eigentlich etwas Philosophisches schreiben wollte, es aber nicht konnte. (Ist er dann in einem gewissen Maße gescheitert?) Stattdessen habe er versucht, das Phänomen der Liebe zu rationalisieren und die Frage nach dem Bewusstsein zu beantworten. Das Ergebnis war laut Helle, eine kalte Sprache, wobei Krien mit Vergnügen erklärte, sie gehe manchmal so nah an den sprachlichen Kitsch heran, wie es nur geht. Warum auch nicht?
Spiele mit der Sprache sind ja sowieso ein fester Bestandteil der Literatur. Oder manchmal sogar mehr als das. Von diesjährigen jungen Autoren hat sich wohl keine andere so viel um die Sprache gekümmert wie die aus Argentinien stammende »Wahldeutsche« María Cecilia Barbetta, die Deutsch erst als Erwachsene in Berlin beherrschen lernte und jetzt in einer wahrlich poetischen, schönen, ja Goethe-würdigen Sprache über ihre ferne Heimat schreibt. Kein Scheitern hier!
Aus einer ganz anderen Perspektive beschäftigt sich der tschechische Autor und Künstler Ondřej Buddeus, der ein Buch »nicht nur für Kinder«, über Sein und Zeit verfasst hat, mit Sprache. Was es genau sein soll, ist schwierig zu sagen, aber eines ist klar: Die Werke von Buddeus sind definitiv nicht Literatur, wie wir es uns täglich vorstellen, sondern überschreiten die klassischen Mediengrenzen. Buddeus' Werke sind so gesehen mehr als Literatur. Und nicht weniger. Wahrscheinlich wieder eine Wahrnehmungssache …
Und dass all dies wiederum auch ganz anders wahrgenommen werden kann, davon sprach Lena Gorelik, die ausführte, sie habe schon als Kind davon geträumt, eine Schriftstellerin zu werden. Schon damals habe sie ganz genau gewusst, dass »ein Roman dick sein« müsse. Genauso wie Barbetta war auch die gebürtige Leningraderin Gorelik der Ansicht, sie habe noch immer die Fähigkeit, Deutsch von außen zu betrachten: »Ich habe immer noch das Wunder der deutschen Sprache.«
Einen Kontrast dazu bildet die Position von Fridolin Schley, der zusammen mit Gorelik auftrat und die von Gorelik formulierte Magie gewissermaßen zerstörte, indem er – von Thomas Bernhard inspiriert – sagte, dass »Gefühle und Wörter nicht zusammengehören«.
Wieder eine Wahrnehmungssache, so wie manches, was an diesen Novembertagen in Greifswald gesagt wurde. Aber sicherlich ist auch diese These von Schley nicht gescheitert. In dem Sinne, dass all das hier Zitierte, das im Seminarraum Verbliebene und die sehr unterschiedlichen Meinungsäußerungen, Literaturbeispiele und Standpunkte folgendes bewiesen haben: Es gibt wenigstens so viele Arten der Literatur, wie es Autoren gibt. Eigentlich aber viel mehr, weil ein Schriftsteller ja mehrere Arten des Schreibens in sich tragen kann. Und wenn ich diese Literaturtagung in einem Satz, in einem Gedanken zusammenfassen sollte, könnte ich nur stöhnen: Wie unterschiedlich kann man nur schreiben! Und das ist keine Wahrnehmungssache. Das ist die Wahrheit.