Der erste Schritt ist die Zuordnung des Textes zum entsprechenden Buchtypus: Handelt es sich um Wissenschaft (und wie wissenschaftlich ist es), um Literatur (und aus welcher Zeit), um ein Nachschlagewerk, einen Ratgeber oder um welche Gattung sonst? – solcher Art sind die Fragen, die sich dem Buchgestalter stellen. Zu jedem Buchtypus gibt es Normformen, die der Leser kennt – bewußt oder intuitiv – und die ihm Orientierung bieten. Erst, wenn die Zuordnung vorgenommen worden ist, denkt der Gestalter darüber nach, wie er seine Leser (und vorher den Auftraggeber) überraschen kann. Buchgestaltung ist konservativ, Leser sind noch konservativer.
Das gilt für die größeren Elemente der Gestaltung – das Konzept, den Seitenaufbau, die Proportionen, die Organisation –, und das gilt auch für die Details. Die typographischen Details, die Einzelheiten des Satzes, gehorchen strengen Regeln, die sich über Jahrhunderte hinweg eingeschliffen haben. Auch die Buchstabenformen sind im Großen und Ganzen unveränderlich. Man mag sich fragen, warum das A einen Querstrich hat und das V nicht, warum das I und das l einander so ähnlich sind und das g so sonderbar aussieht, man wird aber bei der Neugestaltung einer Schrift nichts Wesentliches antasten.
Die Werke, die man zu Arno Schmidts Spätwerk rechnet – ›Zettel’s Traum‹, ›Die Schule der Atheisten‹, ›Abend mit Goldrand‹ und das Fragment ›Julia, oder die Gemälde‹ –, waren zunächst in Form von Reproduktionen der Typoskripte veröffentlicht worden. Das hatte genau einen Grund: Der Satz wäre zu aufwendig gewesen. Daß Arno Schmidt das bedauert hat, läßt sich im Interview ›Vorläufiges zu Zettels Traum‹ hören und lesen (Bargfelder Ausgabe, Supplemente, Band 2). Gegen die Vorstellung, daß bei diesen Werken Form und Inhalt in besonderer Weise verknüpft sind – im Layout und im Detail –, hat er sich in diesem Interview ausdrücklich verwahrt.
1970, beim Erscheinen von ›Zettel’s Traum‹, war noch Bleisatzzeit. Aber auch 1983, beim posthumen Erscheinen von ›Julia‹, war der Lichtsatz noch nicht viel beweglicher als der Bleisatz. Gegen Ende der 80er Jahre aber war die Technik gerade so weit entwickelt, daß der Satz des Spätwerks Arno Schmidts unternommen werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich, Graphikdesign-Student und begeisterter Schmidt-Leser, eine Studienarbeit angefertigt, die grundsätzliche Möglichkeit und Details vorstellte, und daraufhin von der Arno Schmidt Stiftung den Auftrag zur Umsetzung bekommen.

Abbildung 1: Seite 50 des Typoskriptes von ›Zettel’s Traum‹
Daß eine solche Umsetzung gegen Arno Schmidts Auffassung nicht verstoßen würde, hatte er, wie gesagt, selbst deutlich gemacht. Aber war sie denn überhaupt möglich? Eine Eigenheit Schmidts ist seine ausgiebige Verwendung von Satzzeichen. Aus Gedankenstrichen, Schrägstrichen, Doppelpunkten, Frage- und Ausrufezeichen hat er Satzteile oder ganze satzartige Gebilde geformt: Sie stehen für längere Pausen, jähes Innehalten, fragende Bewegungen, Bekräftigungen und dergleichen. Es wäre denkbar gewesen, daß sich speziell die Abstände vor, nach und zwischen den Satzzeichen einer Normierung entzogen hätten: daß also eine Umsetzung in das typographische System möglicherweise einen semantischen Verlust bedeutet hätte.
Die genaue Analyse zeigte, daß das nicht so ist. Die Anwendung der »Grammatik der Interpunktion«, also der üblichen Abstände zwischen Buchstaben und Satzzeichen sowie zwischen den einzelnen Satzzeichen, führt nicht zu einem Verlust an literarischem Gehalt. Schmidt hat die Zeichen natürlich mit großem Bedacht gesetzt, wodurch die Zeichenfolgen nach kurzem Eingewöhnen mühelos und mit Vergnügen gelesen werden können. Die Wortabstände (andere gibt es auf der Schreibmaschine nicht, wohl aber im typographischen System) hat er dabei eher zufällig gesetzt. Nun stellt sich die Frage: Wäre es nicht möglich, die Abstände genau so zu setzen, wie Arno Schmidt das getan hat, und auf diese Weise die Frage nach Umsetzungsverlusten mühelos zu umgehen? Die Antwort ist: Nein, das typographische System muß beim Schriftsatz auch bis ins Detail angewandt werden; das Ergebnis ist sonst nicht ein besser lesbarer Text (was ja das Ziel ist), sondern eine Absonderlichkeit.
Abbildung 2: Zwei kurze Passagen aus der abgebildeten Seite. Oben jeweils die Reproduktion aus dem Typoskript, in der Mitte die zeichenidentische Umsetzung, darunter der korrekte Schriftsatz.
Auf der Schreibmaschine hat jedes Satzzeichen und jeder Buchstabe dieselbe Breite. Ein »W« ist also nicht breiter als ein Punkt. Dadurch haben die Satzzeichen viel Raum – diese Schreibmaschinen-Eigenheit kann (und soll) im Schriftsatz nicht nachgeahmt werden. Das Ergebnis wäre eine Textgestalt, die absurd wirken würde: nicht mehr Schreibmaschine, noch nicht Schriftsatz. Es ging aber um das Gegenteil: darum, den Schmidt-Text von den Spuren seiner Entstehung zu befreien, so daß die Literatur besser erkennbar wird, also das mühelose Lesen zu ermöglichen. Darum geht es beim Setzen eines Textes immer, und Arno Schmidts späte Texte stellen in diesem Punkt keine Ausnahme dar. Lesen und Sehen stehen bekanntlich in einem Konkurrenzverhältnis: Wenn man die Typographie bewußt betrachtet, liest man nicht; wenn man liest, sieht man die Typographie nicht.
Die Üblichkeit fordert das Setzen von Wortabständen vor und nach Gedankenstrichen und Schrägstrichen. Öffnende Anführungszeichen haben davor einen Wortabstand, schließende danach. Nach einem öffnenden und vor einem schließenden Anführungszeichen steht kein Abstand, ebensowenig vor einem Semikolon. Die einzige Ausnahme von der Satztradition: Bei Schmidts Spätwerk steht vor und nach Doppelpunkten ein Wortabstand, und nicht nur danach, da der Autor dieses Zeichen in vielen Funktionen eingesetzt hat.
Ein weiterer Grund für die Vereinheitlichung der Abstände ist der Umstand, daß die übliche Form für Literatur der Blocksatz ist. Damit rechte und linke Satzkante gerade sein können, braucht man Ausgleichsmöglichkeiten. Dafür stehen nur die Wortabstände zur Verfügung, nicht etwa die Buchstabenabstände. Je mehr Wortabstände es in einer Zeile gibt, desto gleichmäßiger können diese sein. Löchriger, fleckiger Satz kam nicht in Frage – es ging ja nicht darum, das Spätwerk Arno Schmidts überhaupt zu setzen, sondern darum, es gut zu setzen.
Die einzige weitere typographische Besonderheit ist das Doppelstrichlein, also das Ist-gleich-Zeichen der Schreibmaschine, das Arno Schmidt als Bindestrich verwendet hat, im Gegensatz zum üblichen Divis, das bei ihm nur Trennstrich ist. Bei der typographischen Umsetzung, die natürlich mit neuem Zeilen- und Seitenumbruch einhergehen mußte, war diese Unterscheidung Schmidts überaus hilfreich – wer hätte festlegen wollen, wo er ein Koppelwort mit Bindestrich gesetzt hat, und dieser Koppelungsstrich nur eben zufällig am Zeilenende gelandet war?
Die editionstypographischen Grundsätze waren also recht leicht zu erarbeiten. Es war erheblich schwieriger, sie auch über all die vielen hundert Großseiten hinweg konsistent durchzuhalten und die immer vorhandene Grauzone der Entscheidungen möglichst klein zu halten. Dies war nur möglich in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den Herausgebern Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach sowie den nicht genug zu preisenden Korrektoren Hajo Lüst, Hermann Wiedenroth und bei ›Zettel’s Traum‹ zusätzlich Rudi Schweikert. Zum Satzhandwerklichen ist noch hinzuzufügen: ›Zettel’s Traum‹ ist ein Roman, dessen Kolumne zwischen drei Positionen pendelt: Sie kann in der Mitte stehen, links oder rechts, was natürlich alles etwas bedeutet. Dazu kommen Sonderfälle, wenn sich etwa die Textkolumne zusätzlich aufspaltet, etwa um zwei parallele Handlungen zu verbildlichen. Satztechnisch ist das alles ungewöhnlich, aber halb so wild. Schwierig aber war der Umbruch dieses Werkes. An vielen Stellen ist die Seitentrennung nicht möglich, etwa wegen Marginalien, die nur im äußersten Notfall getrennt werden sollten, oder Abbildungen, die natürlich gar nicht umbrochen werden können. Das übliche Mittel des Setzers bei der Manipulation des Umbruchs ist das »Austreiben« oder »Einbringen«: Er sucht Absätze, deren letzte Zeile fast oder ganz gefüllt ist, und vergrößert behutsam die Wortabstände im Absatz, bis eine neue Zeile entsteht. Oder er sucht Absätze, deren letzte Zeile ganz kurz ist, und quetscht das Ende noch nach oben. Bei ›Zettel’s Traum‹ gibt es nun so gut wie keine Absätze, und die genannten Interpunktions-Gebilde möchten nicht überall getrennt werden, sondern bilden zusammen mit Wortteilen überlange Silben, was ohnehin eine Hürde für ein gleichmäßiges Satzbild ist. Das Zusammentreffen dieser beiden Umstände aber war das, was den Satz von ›Zettel’s Traum‹ so langwierig gemacht hat.
Die Studienarbeit hatte ich damals bei Hans Peter Willberg in Angriff genommen, weil ich zum Spätwerk Schmidts partout keinen Zugang bekommen hatte. Ich ahnte wohl, daß das großartige Texte seien, die ungewöhnliche Form hatte sich beim Lesen aber unüberwindlich dazwischengeschoben. Nach dem Satz der dreieinhalb Romane hat sich das sehr geändert. ›Abend mit Goldrand‹ ist eines meiner Lieblingsbücher geworden, und auch die anderen sind mir sehr ans Herz gewachsen; selbst das Überbuch ›Zettel’s Traum‹ zeigt nun viel müheloser seine Schönheiten und seinen Witz.
Abbildung 3: Die Seite 53 der gesetzten Fassung von ›Zettel's Traum‹.
Abbildung 4: Friedrich Forssman, Foto: Sebastian Isacu