Ich liebe Überlandbusfahren. Da kenne ich mich ziemlich gut aus. Meine Eltern hatten in Argentinien lange Zeit kein Auto. Lief bei meinem Vater beruflich alles gut, fuhren wir einmal im Jahr in den Sommerferien für zwei Wochen an den Strand. Das große weite Meer erreichten wir, indem wir unsere reservierten Plätze in einem klapprigen Überlandbus einnahmen, der uns nach fünf, sechs Stunden abenteuerlichem Unterwegssein im Paradies meiner Kindheit und Jugendzeit absetzte.
In Kiel, unserer zweiten Station nach Hamburg, wo die Reise für uns acht begonnen hatte, gehen meine Schriftstellerkollegen und ich mit einer Gruppe Literaten und Kulturschaffenden, die sich uns angeschlossen hat, am Wasser spazieren. Ein Journalist will von mir wissen, ob ich mir vorstellen könne, dass Kiel, wo er herstamme und ich bis dahin noch nie gewesen war, sich auf mein literarisches Schreiben auswirken werde. Ich, die ich in der Fremdsprache Deutsch meistens über meine Heimatstadt Buenos Aires schreibe, nicke zustimmend. Zuvor im Bus, auf dem Weg in die mir noch unbekannte Hafenstadt, hatte ich Ausschau nach einem Fensterplatz mit Panoramablick gehalten. Während der Fahrt hatte sich mein Spiegelbild wie erhofft die ganze Zeit vor die fremde Landschaft geschoben, so dass sich bei mir das Gefühl einstellte, zwei zu sein. Ich glaubte, mich sowohl drinnen als auch draußen aufzuhalten, wie früher in Argentinien: unterwegs und zugleich angekommen zu sein. Wer am Fenster eines Überlandbusses sitzt, wird jedes Mal Protagonist eines phantasmagorischen Erlebnisses, bei dem sich Welten unentwegt überlappen, als hätte man im Gepäck gleich zwei Projektoren, die nach dem Prinzip der Laterna magica funktionieren und ihre unterschiedlichen Bilder in einer Überblendung verschmelzen lassen. Die Ostsee in Kiel wird in meinem Kopf zum Río de la Plata, wie zuvor schon auf unserer Route der Hamburger Hafen zum puerto de Buenos Aires geworden war.
»Gib mir die Hand, sonst gehst du mir zwischen den vielen Badegästen schon wieder verloren«, sagte meine Mutter zu dem Mädchen, das ich damals in den siebziger Jahren gewesen war. Wenn ein Kind in Argentinien am Strand verlorengeht, weint es bitterlich. Der erste Urlauber, der seinem herzzerreißenden Weinen gewahr wird, beruhigt es und nimmt es anschließend auf die Schultern. Die salzige Meeresluft trocknet seine Tränen in Sekundenschnelle, so dass das Kind zum lachenden Riesen wird, der nun erhobenen Hauptes und in Siebenmeilenstiefeln am Wasser entlang schlendert. Ihm schließen sich gleich mehrere Urlauber an. Die Gefolgschaft wächst und wächst, dabei klatscht sie laut in die Hände, so laut, dass die inzwischen verzweifelten Eltern des verlorengegangenen Kindes davon alarmiert werden.
Der Applaus am Ende ist selbstverständlich riesengroß. Er gilt einem Lyriker unter uns, der gerade am Kai, wo wir stehengeblieben sind, ein Gedicht auf Griechisch vorgetragen hat. Ich war schon immer äußerst verträumt. Einmal um den Block, und ich wusste nicht mehr, wo links und rechts ist, so dass ich – allein auf mich gestellt – stets große Schwierigkeiten hatte, den Heimweg zu finden. Heute als Erwachsene, die ihren Lebensunterhalt als freie Schriftstellerin bestreitet, bin ich überzeugt, dass es von Nutzen ist, überhaupt keinen Orientierungssinn zu besitzen, denn egal, wo ich mich aufhalte, wähne ich hinter der äußeren Erscheinung Buenos Aires. Mittlerweile finde ich meine Heimat überall. Ich erfinde sie. Die Grenzen der Städte, die meine Kollegen und ich bereisen, verschwimmen.
»Es ist wundervoll, an der frischen Luft zu sein«, sage ich dem Kieler Journalisten, während wir an Bord eines Schiffes gehen, das uns ans nächste Ufer setzen wird. Meine Kollegen aus der Schweiz und Österreich, meine Kollegen aus Malta, Tschechien, Island, Finnland und Zypern, wir alle werden übersetzt. Aus entfernten Orten hergekommen wachsen wir in einer Woche, die aus Lesungen und Gesprächen besteht, zusammen. Die Literatur ist Brücke und Passage. Sie ist das gelobte Land, das wir in mehreren Zungen bereisen, mit voneinander abweichenden Sprachrhythmen und Melodien. Sie ist die Landkarte, die wir lesen und dafür lieber auf den Kopf stellen, so wie mein Lieblingsautor, der Argentinier Julio Cortázar, der einen anderen Julio derart verehrte, dass er ihm zu Ehren einen Essayband verfasste und diesem den Titel gab: Reise um den Tag in 80 Welten. Um es weiter mit dem Argentinier zu sagen, der die zweite Hälfte seines Lebens in Frankreich verbrachte: Meine Compagnons und ich, wir sind Die Autonauten auf der Kosmobahn. Die Literatur ist unser wichtigstes Instrument. Sie dient als Kompass und Fernrohr. Sie gewährt Einblicke in den von uns allen herbeigesehnten Freiraum hinter den Zäunen. Sie ist schließlich der Beweis, dass es keine Grenzen gibt, die sich schreibend und träumend nicht verschieben und sogar überschreiten ließen. Unterwegs im Omnibus zähle ich rückwärts die Tage. Ich will im Geiste Zeit für uns herausschlagen, und schlafe dabei kurz ein. Ich träume, je nachdem wer mir erscheint, auf Maltesisch, auf Finnisch, auf Isländisch ... Ein Pfingstwunder Ende Mai.
Die Literatur ist das, was uns beflügelt. Wie Pegasus, die Chimäre. Nicht die Flügel, schreibt der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser, auch nicht der Körper des Pegasus machen das Fabelwesen aus, sondern die besondere Stelle, in der die Flügel in den Körper des Pferdes übergehen. Diesen magischen Schnittpunkt wollen wir aufspüren, denn dort sitzt die Einbildungskraft. Die Literatur ist für mich aber auch jener Erwachsene, der das Kind tröstet, beschützt und hochhält, damit es alle sehen, eine schreibende Frau, die das kleine Mädchen, das sie einst war, jeden Tag aufs Neue aufsucht. Die Literatur ist groß und klein, ernst und unterhaltsam, seriös und verspielt zugleich. Sie ist das, was uns niemals verlorengeht, wenn wir am Ende der Reise voneinander Abschied nehmen – mit dem Gefühl, von jetzt an uns immer wieder neu auf Augenhöhe begegnen zu können.

Änderungsschneiderei Los Milagros
Nichts ist mehr, wie es war, als die schöne Analía Morán in der Änderungsschneiderei Los Milagros in Buenos Aires auftaucht und in das Leben der jungen Schneiderin Mariana Nalo tritt: Während sie Analías Hochzeitskleid ändert, scheint Mariana immer tiefer in das Leben der anderen einzudringen, das ihr fremd und merkwürdig vertraut ist …
Ein Debüt voller emotionaler Kraft und mitreißender Gefühle um zwei junge Frauen und ein rätselhaftes Wunder namens Liebe.