als der rucksack, den ich auf meinem koffer abgestellt hatte, nachdem ich in tegel morgens kurz nach halb fünf angekommen war, auf den boden fällt, wusste ich noch nichts von den linien, die nur ein kleines fenster übrigließen, oben rechts, auf dem bildschirm: elf horizontal (unten), sechzehn vertikal (links), in verschiedenen farben, wie auf dem imac fast, den meine eltern mir zum studium vor elf jahren geschenkt hatten, und auf dem sie erschienen waren, unerwartet. ich zähle sie während des flugs, air france two seven nine, paris charles de gaulle to tokyo haneda airport, twelve hours and fifteen minutes. es ist elf uhr dreiundvierzig. ich verstaue mein macbook in der sitztasche vor mir. ich lasse einen japanischen thriller laufen, an den ich mich nicht erinnere.
ich wusste: nach der landung würde ich dieses bild meinem älteren bruder schicken und er würde nicht antworten.
m mittenshimogyo-ku, kyoto: fluchtpunkt; am ende: gebirge, wald. natur kennt keine wahrheit.
shimogyo-ku, kyoto: links: der geteilte körper meines bruders; rechts: ein einhundert yen shop.
n nachkriegsarchitektur
als der shinkansen (modell: sakura) einfährt, wusste ich, woran er mich erinnert: an eine kreuzung aus kobra und delphin. strecke: tokyo nach fukuoka. distanz: eintausendsechsundneunzig kilometer. tokyo und osaka verbindet die tokaido shinkansen line; honshu, die größte der vier hauptinseln japans wird von der sanyo shinkansen line mit kyushu, der südlichsten, verbunden; auf dieser strecke, in ihrer mitte ungefähr, liegt hiroshima. sie beginnt in osaka und endet in fukuoka.
erst auf der rückfahrt, als ich die städte, die zwischen fukuoka und tokyo liegen, in dieser reihenfolge: hiroshima, fukuyama, kobe, osaka, kyoto, nagoya, yokohama, in fünf stunden und sechs minuten nacheinander sehe, erinnere ich mich, an das, was ich gedacht hatte, als ich das erste mal in japan war, dass die städte, kyoto ausgenommen, sich ähneln, dass das stadtbild aus dem zug ununterscheidbar war, bis zu dem punkt, an dem die fotos, die ich mit meinem iphone aus dem fenster schieße, sich keinem ort mit sicherheit mehr zuordnen lassen würden, später. ich gehe sie am abend vor dem rückflug nach paris durch. und bei jedem bild denke ich: es hätte fukuoka, hiroshima, fukuyama, kobe, osaka, nagoya, yokohama oder tokyo sein können; ich dachte, es hätte jede dieser städte sein können; kyoto ausgenommen.
städte, die während der alliierten luftangriffe unter anderem zerstört wurden: fukuoka, hiroshima, fukuyama, kobe, osaka, nagoya, yokohama, tokyo. kyoto galt als potentielles ziel für einen atombombeneinsatz. henry l. stimson, kriegsminister unter roosevelt, kannte die stadt von einem früheren besuch. dieser zufall verschonte kyoto auch vor den brandbomben der b-twentynine superfortress, die, wie engel der geschichte, zur ausführung der luftangriffe auf japan verwendet wurden. zwischen zweihundert und neunhunderttausend menschen wurden getötet.
als ich das erste mal in japan war, dachte ich, diese städte sehen aus wie architekten und stadtplaner sich in den sechziger und siebziger jahren die zukunft vorgestellt haben mussten; in dieser vorgestellten zukunft sind sie stehengeblieben; kyoto ausgenommen.
das ist nicht kyoto (blick aus dem shinkansen).
o ohren
wir beschlossen, die nacht am flughafen zu verbringen. rückflug: sechs uhr dreißig. wir gehen in einen lawson, bevor wir die letzte metro nehmen. ich kaufe: wasser, onigiri, waffeln. ich bemerke den kassierer; ich bemerke, wie er mich bemerkt. es gibt diesen blick, diese art des sichansehens unter menschen, die eine zufällige gemeinsamkeit teilen, in einer gegend, in der diese auffällt. wenn ich in einem ice sitze und jemanden mit dunkler haut sehe, sehen wir uns an, für ein oder zwei sekunden; nicken. wir sagen kein wort. ich nehme die kopfhörer aus meinen ohren.
konbanwa.
konbanwa.
are you from india?
i’m from germany.
you look indian though.
i was born in sri lanka. are you from india?
i am from nepal.
how long have you been living here in tokyo?
two years now. i came here to work. did you just arrive?
i’m heading back to the airport.
i see. fivehundred and fourty yen please. arigatou. have a safe flight.
arigatou.
p perspektive
roppongi, tokyo: jede stadt, die ich früher auf sim city zweitausend zu bauen versucht habe, war dieser stadt nachgebildet (blick vom mori arti museum).
q q
ich sitze mit einer bekannten vor gelati gelati, irgendwo in hangdae, seoul, nachts. wir sind die letzten kunden. seit tagen: diese hitze. auf der teresse liegt kunstrasen. ich suche mein feuerzeug. sie erzählt von dem film, an dem sie seit zwei jahren arbeitet. aus einer richtung höre ich q und kanye. ein typ kotzt auf die straße. sie fragt mich, ob wir an den hangang gehen sollen. wir gehen an den hangang.
r regen
white wall stained by black rain, hiroshima peace memorial museum.
soon after the explosion, a giant mushroom cloud billowed upward, carrying dirt, dust, and other debris hight into the air. after the explosion, soot generated by the conflagration was carried by hot air high into the sky. this dust and soot became radioactive, mixed with water vapor in the air, then fell back to the earth in what came to be called »black rain«. this roof of a house about three thousand and seven hundred m from the hypocenter was dislodged by the blast, allowing in drops of black rain that dripped down and left traces on this white plaster wall.
s sonnen
zwei sonnen, übereinander.
mapo-gu, seoul: licht/smog.
t teer
in dem gs twenty five kaufe ich ein snickers. wir laufen durch leere straßen und an bars vorbei, die geschlossen werden, bis wir, unter dem gangbyeon expressway, einer achtspurigen autobahn von fast vierzig kilometern länge, wie sie sagt, standen, zwischen der yanghwa und seogang bridge und ihren lichtern, die den blick auf den hangang, der seoul teilt und schwarz war wie teer, begrenzen. zwei angler sitzen vor uns. wir stehen an der brüstung. es ist nicht kühler geworden.
ihr handy klingelt. ihr klingelton: keith ape, it g ma. ich zünde mir eine zigarette an.
u uhr
ich habe die station nicht wiedererkannt. mai zweitausendfünfzehn: ich verbrachte drei wochen in tokyo. zwei monate konnte ich nichts schreiben. abgabefrist: ende juli. zweieinhalb kapitel des romans fehlten. rückblickend sage ich, dass erst hier, in dieser stadt, valmira, eine der figuren, zu sprechen anfing. ich wohnte in nihonbashi. wir stehen an der station, die heißt wie dieser bezirk, um in eine andere metro zu steigen, und ich habe sie nicht wiedererkannt.
es ist zweiundzwanzig uhr einundzwanzig, als ich am nächsten tag in einer bar in harajuku die nachricht, die meine eltern mir über whatsapp geschickt hatten, öffne. während wir in japan und südkorea waren, waren sie mit unserem älteren bruder in jaffna.
juni neunzehnhunderteinundachtzig wurde die jaffna public library von einem mob singhalesischer männer niedergebrannt. mehr als einhunderttausend bücher und palmblattmanuskripte wurden zerstört. in meinem roman wird von diesem ereignis gesprochen.
mein vater sagt, an diesen beiden tagen, in denen die bibliothek brannte, hätten die tamilen ihre sprache und ihr gedächtnis verloren. niemand würde sich mehr erinnern können. und auch wir erinnern uns an nichts.
an dem tag fast, an dem sich diese zerstörung zum fünfunddreißigsten mal jährte, zweiunddreißig jahre nachdem wir gezwungen waren, das land zu verlassen, kehrten meine eltern zurück, in ihre und meine geburtsstadt, um ein exemplar von vor der zunahme der zeichen der wiedereröffneten jaffna public library zu geben.
über minuten und sekunden: riss, von japan nach sri lanka.
v vergessen
irgendwo, seoul: winkel/wohnen.
w warten
nachts, und das licht blendete im vorbeigehen.
shinjuku, tokyo: links: ein telefon; rechts: getränkeautomaten (drei).
x xx
ich warte seit einer halben stunde auf meinen bruder in shinjuku, vor muji, es ist halb sechs, warm, wärmer als vor einigen stunden, als wir ramen in einer seitenstraße, in einem restaurant, das im souterrain lag, aßen, es war dunkel im eingangsbereich. ich lehne mich an die brüstung, die den fußgängerweg begrenzt. ich stehe im schatten. die straße: hell, licht am abend. aus einem auto höre ich the xx. eine mutter schreit das kind an, das auf ihrem gepackträger sitzt.
y yen
in asakusa, vor der biegung der gleise. ich ziehe einen grashalm durch das fünfzig yen stück.
asakusa, tokyo: die dunkleren wolken bilden kein kreuz.
z zigaretten
naka-ku, hiroshima: mon amour (verforme mich bis zur hässlichkeit).
ich verlasse das apartment gegen neunzehn uhr. ich stehe in einem seven eleven. ich kaufe eine packung marlboro rot. ich laufe über straßenbahngleise. ich sehe einen ausschnitt des gebirges am ende einer häuserschlucht. ich setze mich ans ufer. ich zünde mir eine zigarette an. ich betrachte die reflektion des himmels im wasser. ich betrachte die kippe in meiner hand. ich höre fahrradreifen auf dem asphalt. ich sehe den filter und seine farbe im fluss; ich sehe ihnen nach. ich erinnere mich. ich denke an das erste mal, als ich den namen dieser stadt gehört hatte. ich denke an anfang der neunziger. ich denke an unser altes wohnzimmer. ich denke an das weiße geschichtsbuch meines älteren bruders. ich denke an die bilder, die er mir zeigte. ich denke an den fluss, der vor mir liegt.
danach: sueko sumimoto, hiroshima peace memorial museum.
© alle Fotos: Senthuran Varatharajah

Durch Zufall beginnen Senthil Vasuthevan und Valmira Surroi ein Gespräch auf Facebook. Er lebt als Doktorand der Philosophie in Berlin, sie studiert Kunstgeschichte in Marburg. Sieben Tage lang erzählen sie sich von ihrem Leben, ohne sich zu begegnen. Ihre Nachrichten handeln von ihren Familien und ihrer Flucht aus Bürgerkriegsgebieten, von ihrer Kindheit im Asylbewerberheim und ihrer Schul- und Studienzeit. Hochreflektiert schreibt Senthuran Varatharajah in seinem Debütroman über Herkunft und Ankunft, über Erinnern und Vergessen und über die Brüche in Biographien, die erst nach einiger Zeit sichtbar werden.