Reiner Kunze hat Brigitte Reimann gekannt, sie waren befreundet. Es war die Freundschaft zweier junger Schriftsteller, denen das System, in dem sie lebten, die DDR, viel versprach und die bald enttäuscht wurden. Sie wurden in ihrem Schreiben und Denken, in ihrer Publikationstätigkeit wie ihrer gesamten Existenz bedroht. Brigitte Reimann starb vor ihrem 40. Geburtstag an Krebs, ihr Roman »Franziska Linkerhand« blieb unvollendet.
Die beiden Freunde, Reiner Kunze und Brigitte Reimann, haben von 1953 bis 1972 Briefe gewechselt, die bisher nie veröffentlicht wurden. Leider sind nur die Briefe Reiner Kunzes erhalten. In diesen wenigen und kurzen 27 Briefen wird auf eindringliche Weise die Entwicklung zweier Künstler unter politisch immer schwieriger werdenden Bedingungen spürbar und eine berührende Nähe zweier Menschen, die einander sehr schätzen, unterstützen und Trost spenden.
»So gut wie möglich Kunst (Literatur) machen, Brigitte, das ist uns aufgetragen«, schreibt Reiner Kunze: und »Die Geduld nicht verlieren, schreiben, schreiben und notfalls wegpacken (aber so, daß es in guten Händen ist).«
2
Leipzig, d. 16.02.1959
Ihr Lieben,
für Eure Karte, die mir Eure Ehe ins Haus trug, danke ich Euch herzlich. Im Namen der Dichtung: Amen!
Kommen wir von der Nebensache zur Sache: Wann erscheinen Eure Bücher? Wie weit seid Ihr? Schließlich sind das die Fragen nach Eurer Ehe, nur vom richtigen Gesichtspunkt aus gestellt.
Wenn ein Buch erscheint, vergeßt mich armen Irren nicht ganz.
Mehr kann ich im Augenblick nicht schreiben. Ich habe einen schweren Herzanfall verabreicht bekommen und liege wie ein geprellter Frosch auf dem Rücken. (Kurz vor der Promotion meine Entlassung eingereicht, 4 Jahre Forschung verloren! Man macht mich hier fertig, und, glaubt mir, ich habe nichts verbrochen!)
Ich schreibe meine erste Prosa. (Im Augenblick nicht, werde aber bald wieder beginnen.)
Euer Reiner
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Greiz, 13.12.1969
Liebe Brigitte,
ich danke Dir für die weiße Laus! Und gleich von vornherein: Bei mir (uns) brauchst Du keine Gründe zu erfinden, wenn Du auf dem Hund bist und einen Brief schreiben willst. Manchmal, auch wenn der andere nicht helfen kann, ist es eine Erlösung, dem anderen signalisieren zu können, wie dreckig es einem geht. Im größten Notfall bedarf es dann keiner Erklärungen, wenn man seiner bedarf... Du bist nicht allein, klar? (Leicht gesagt, aber... Ich weiß!)
So, und nun konkret: Zuerst einmal – und hier, so glaube ich, habe ich ein gewisses moralisches Recht zu solchen Worten – : laß Dich durch alle Mißgeschicke, als da sind Verlassensein, Isolation, Krankheit und allgemeine Kälte nicht irremachen: Literatur ist nicht für den Augenblick allein, Literatur wird sich halten, selbsterhalten, bis sie aktiv sein kann – auch in unseren Breiten, da gibt es auch ab und zu einen Sonnenaufgang: dann aber muß sie da sein, die Literatur, sozusagen mit der Blattspitze unter der obersten Erdkrume, voll von Energie! Arbeite, Mädel, arbeite! Es gibt nur eine Ausnahme: Krankheit! Da soll man die Kraft haben, die Arbeit total zu stornieren und konsequent gesund zu werden (so gesund, wie eben möglich). – Was aber arbeiten? Und hier meine ich: laß im Augenblick den Roman, mach etwas, das Dir, relativ zumindest, Spaß macht, kurz ist (Geschichten, Feuilletons, Erzählungen, Reportagen), Deinen Namen ins Bewußtsein drängt (immer wieder) und Geld bringt. Verzeih mir diese brutale Beratung, aber nichts ist in solchen Krisen (glaube mir, ich kenne sie, ich habe sie nicht vergessen) heilsamer als erfolgversprechende Aktivität, die u.a. auch materiell über Wasser hält (auf kurze Intervalle – aber dabei muß es nicht bleiben, es gibt ja auch Erzählungsbände etc.). Ich glaube zum Beispiel, Knobloch (110 Berlin, Masurenstr. 4) sucht ständig kurze Sachen für seine Literaturseite und Leute, die längere Reportagen schreiben. Dein Name hat Klang (ich denke an die Chefs), man wird Dir vielleicht Aufträge geben. Kann Dir nicht außerdem einer der Kollegen helfen, die doch Beziehungen haben? Das stellt auf die Füße. Die Kirsch hat im Magazin schöne Märchen veröffentlicht. Die zahlen vorzüglich, heißt es. Kurz: Nicht verzweifeln, arbeiten! Und wenn die Situation ein wenig ins Reine „gearbeitet“ ist, dann wieder an den Roman denken. Was meinst Du dazu, großes schönes Kind? – Eine Einschränkung habe ich gemacht: Gesundheit. Was ist das nun wieder – mit dem Rückgrat? Kannst Du Dir nicht eine ordentliche Krankheit zulegen (ich wünsche Dir zwar nicht noch eine von dem Ausmaß, die Du gottseidank hinter Dich gebracht hast, aber etwas Reelles, zum Beispiel eine bockige Galle, die man rausholt – und fertig! Darum geht es – nebenbei bemerkt – bei mir, Mahlower Wässer würden da also nichts nützen, und ich habe auch schon erste Schritte unternommen, um mich sorge Dich also nicht, abgesehen davon, daß ich umsorgt bin, und wir Grund haben, uns erst einmal um Dich zu sorgen.). Also: Das hat selbstverständlich Vorrang. Ich hoffe, daß Dir über diese Zeit vom Verband hinweggeholfen wird. Hätte ich jetzt nicht ein Dreivierteljahr nahezu keinerlei Verdienstmöglichkeit gehabt, würde ich Dir ja anbieten, was ich habe. Es steht Dir, wenn Du sehr in Not geraten solltest, sehr gern – von Herzen gern – zur Verfügung! Ich kann im Augenblick nur nicht aus dem Vollen wirtschaften (endlich habe ich Übersetzungen bekommen!), aber im Notfall (also wenn Du durch die Krankheit zum Beispiel in Schwierigkeiten geraten solltest), könnte ich Dir (könnten wir Dir, denn meine liebe Frau ist hierbei der ausschlaggebende Schaffer) vielleicht aushelfen, zumindest könnten wir mithelfen... Gehe sofort ins Krankenhaus, laß Dich kurieren, und dann überlege Dir, was Du in die Tat, in die schriftstellerische, umsetzen kannst! Du hast Talent, hast Verstand, siehst die Dinge, wie sie sind, was brauchen wir denn mehr von einem Menschen, der Literatur machen soll? Natürlich wünsche ich Dir, daß Dir mehr vom menschlichen Glück vergönnt wäre, aber – da kann man nichts machen (ich kann nichts machen, und Du wohl auch nicht). Ich glaube nur, auch hierin gibt es Wandel. – Nur eines nicht: Verzweifeln, wenn man ganz unten ist!
Ja, ich weiß, ich schreibe jetzt aus einer menschlich glücklichen Situation (und sei versichert, ich bin mir dieses unglaublichen Glückes bewußt, ich bedenke es jeden Tag und habe Angst, irgendwie bestraft zu werden, weil ich dieses große Glück genieße, ich weiß nicht, womit ich es verdient habe), nur: es war nicht immer so, und doch ist es so gekommen. Mach Dich gesund und wisse, daß es außer Männern auch noch Menschen gibt (sogar männlichen Geschlechtes), daß sie – wie alle M e n s c h e n – einem nur selten über den Weg laufen (und dann blickt man meist weg), und die Chance, einen wirklichen Kameraden zu finden, besteht immer! Und wisse, daß i c h von Dir Literatur erwarte (und – u.a. – ein Tagebuch, wann fängst Du an, es zu schreiben? Du siehst und hörst so viel...). Ich bin bereit, jedes Blatt dieses Tagebuchs versiegelt zu verwahren. Ich erwarte die erste Sendung in einem halben Jahr (Du kannst sie tatsächlich versiegeln, ich werde es nicht öffnen und es Dir aushändigen, wenn Du es eines Tages zurückhaben willst!).
Und schreibe, wenn Dir danach ist, Briefe. Und schreibe, wenn wir helfen sollen. Wir werden es nach unseren Möglichkeiten tun.
Ich bedanke mich für Deinen Brief, Brigitte, und drücke Dir die Hand!
Dein Reiner
Und meine Frau grüßt Dich herzlich!
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21.08.1970
Liebe Brigitte,
ich danke Dir für die schöne exotische Kornblume! Ich freue mich, daß Du wieder daheim bist und versuchst, Dich zu adaptieren. (Was bleibt uns weiter? Wir müssen gewisse Jahrestage überleben.) Gern würde ich Dir mein neues Buch schicken (Prosa »Der Löwe Leopold«, S. Fischer Verlag), aber ich erhielt heute die Beschlagnahme-Urkunde des Zolls in Erfurt. Alle Belegstücke sind eingezogen worden... Schade, vielleicht hättest Du ein bißchen lachen können, denn das Buch bringt die Leute erstaunlicherweise zum Lachen. – Schreib und lebe, Mädchen! Wir, Elisabeth und ich, wünsche Dir viel, viel Kraft und Mut und Ideen,
Dein Reiner!

Die Schriftsteller Brigitte Reimann und Reiner Kunze lernen sich Anfang der fünfziger Jahre kennen, beide sind neunzehn Jahre alt, und sie werden einander bis zu Brigitte Reimanns Tod freundschaftlich verbunden bleiben. In den hier erstmals veröffentlichten Briefen Reiner Kunzes an Brigitte Reimann aus den Jahren 1953 bis 1972 (leider sind die Briefe Brigitte Reimanns nicht erhalten) spiegelt sich die Entwicklung der beiden Künstler in einer Zeit, als die politische Fassade der DDR immer größere Risse bekommt und Reimann und Kunze zunehmend mit dem Literaturbetrieb in Konflikt geraten. So entsteht ein außergewöhnliches Zeitdokument und das Zeugnis einer besonderen Freundschaft.