Neulich, im Bus auf dem Weg zu einem Essen, kam ich an einem Balkon vorbei, auf dem ein ungefähr fünfzig Jahre alter Mann stand und rauchte. Für die Dauer von ein paar Sekunden kreuzten sich sein und mein Leben. Ich sah ihn stehen, er sah den Bus fahren. Weiter passierte nichts, wir bewegten uns aneinander vorbei.
Während das Fahrzeug die Straße hinunterfuhr und wir aus des anderen Gesichtsfeld verschwanden, rührte mich der Gedanke, dass wir einander nicht in Erinnerung bleiben würden, dass wir im Leben des anderen lediglich Statisten waren, des anderen Straße füllten.
»Such das mal raus, meiner Meinung nach gibt es einen Namen für dieses Gefühl«, sagte ein Freund, als ich ihm davon erzählte.
Zu Hause machte ich mich gleich daran, es zu googlen – die Diagnose zu stellen.
Ich landete bei The Dictionary of Obscure Sorrows, einem Blog, in dem der Graphikdesigner und Filmemacher John Koenig ein Handbuch aus selbst erfundenen Wörtern zusammenstellt, die Lücken in unserem Wortschatz füllen sollen.
So definiert Koenig sonder als »die Erkenntnis, dass jeder willkürliche Passant ein ebenso lebendiges und komplexes Leben führt wie man selbst«.
Jeder erlebt das irgendwann einmal. Den Moment, in dem du dir klar machst, dass der Mann neben dir im Zug da nicht nur als Staffage deiner Umgebung sitzt, sondern dass auch er eine Familie hat, zu der er zurückkehren will, einen eigenen Haushalt, eigene Ambitionen, Freunde, Routinen und Sorgen, unermessliche Trauer um verstorbene Eltern oder alles absorbierende Verliebtheit – sofort gefolgt von der Kehrseite dieser Erkenntnis: Du selbst bist für alle anderen auch nur ein Püppchen, das den Hintergrund füllt, eine der Personen, die die Kaffeebar »fürchterlich voll« machen, ein Hinterkopf in jemandes Warteschlange.
Mir passiert das regelmäßig, dass ich plötzlich aus meiner Rolle als Hauptfigur falle. Häufig in Bahnhöfen, während ich stehenbleibe, mitten in einer großen Menschenmenge, die, gehetzt, irgendwohin unterwegs sind.
Koenig erwähnt in seiner Definition nicht, welche Emotion sonder genau beinhaltet; welche Empfindung damit einhergeht, ob es eine positive oder negative Erfahrung ist.
Bei den meisten Leuten, mit denen ich in den letzten Tagen darüber gesprochen habe, besteht das Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit vor allem aus Erleichterung. Die Zahl der potentiellen Begegnungen ist unendlich. Und Gott sei Dank gibt es auch Leute, denen du nichts bedeutest, Streitereien, für die dich keine Verantwortung trifft, Hochzeitsfeiern, auf die du nicht eingeladen zu werden brauchst.
Für mich steckt in sonder insgeheim ein Gefühl von Neid. Auf dem Weg zu einem Essen finde ich es schade, dass nicht alle zusammen mit mir dorthin unterwegs sind. Nicht nur weil geteilte Feierfreude die schönste ist, sondern auch weil ich fürchte, dass sie zu einem schöneren Ort unterwegs sind als ich.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

Ein Buch, das alles gibt und alles verlangt.
Mit geschlossenen Augen hätte Eva damals den Weg zu Pims Bauernhof radeln können. Sie könnte es heute noch, obwohl sie viele Jahre nicht in Bovenmeer gewesen ist. Hier wurde sie zwischen Rapsfeldern und Pferdekoppeln erwachsen. Hier liegt auch die Wurzel all ihrer aufgestauten Traurigkeit. Dreizehn Jahre nach dem Sommer, an den sie nie wieder zu denken wagte, kehrt Eva zurück in ihr Dorf – mit einem großen Eisblock im Kofferraum. Die junge Bestsellerautorin Lize Spit wagt sich mit ihrem ersten Roman »Und es schmilzt« an die Grenzen des Sagbaren.