- Editorial von Sharon Dodua Otoo und Manuela Bauche
- Ankleben verboten! von Sara Nović
- »Schwarze Schwerkraft« von Musa Okwonga
- »Die Farbe deiner Haut« und »Von Glasperlen Bedroht« von Red Haircrow
- Ein Beitrag von Sita Ngoumou
Wann ist Euch persönlich deutlich geworden, dass in den Erzählungen deutscher Geschichte vieles ausgeblendet wird?
SDO: In meinem Auslandsjahr in Berlin war ich erstmalig auf einer Black-History-Month-Veranstaltung. Das war im Februar 1995. Ich habe in diesen vier Wochen sowohl von der Gründung von ADEFRA (damals Afro-Deutsche Frauen) wie von den Rheinland-Kindern und dem Genozid an den Herero und Nama erfahren als auch etwas über Persönlichkeiten wie May Ayim, Anton Wilhelm Amo, Fasia Jansen und Theodor Wonja Michael gelernt. Das war für mich eine Offenbarung, denn während meines Germanistikstudiums in London war Feirefiz, Parzivals Halbbruder, für mich der einzige Hinweis darauf, dass es möglicherweise nicht-weiße Personen in Deutschland gegeben hatte.
MB: Wie viele Schwarze Deutsche weiß auch ich aus meinem eigenen Umfeld schon lange, dass Deutschland Geschichten hat, die sowohl nicht-weiße Deutsche einschließen als auch mit Geschichten von Menschen außerhalb Europas verwoben sind: Mein kamerunischer Urgroßvater hieß mit Vornamen Hans und arbeitete als Kurier für die deutsche Kolonialverwaltung. Die Mutter meiner Nachbarin aus Schulzeiten war Afrodeutsche und hatte beide Weltkriege miterlebt. Als ich Ende der 1990er anfing, in Berlin Geschichte zu studieren, musste ich allerdings feststellen, dass es dort keine Angebote darüber gab, was für ein System das war, für das mein Urgroßvater gearbeitet hatte, oder über den Alltag Schwarzer Menschen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Ich habe diese Geschichten dann zunächst in Büchern von Afrodeutschen »entdeckt«, z.B. in »Farbe bekennen«, in dem afro-deutsche Frauen die Geschichten einiger Personen rekonstruieren, die Sharon genannt hat. Und irgendwann habe ich mich dann selbst der Geschichte des deutschen Kolonialismus zugewandt – bezeichnenderweise nicht im Geschichtsstudium, sondern in meinen anderen Fach Afrikawissenschaften.
Ihr habt zahlreiche Künstler_innen, Aktivist_innen, Akademiker_innen eingeladen, über die Frage, wie Geschichte in Deutschland geschrieben wird, nachzudenken. Gibt es Perspektiven, die Euch besonders überrascht, begeistert, erstaunt haben?
SDO: Ich habe mich über alle Beiträge sehr gefreut. In der Summe ergeben sie ein Heft, das multiperspektivisch ist, und darauf bin ich stolz. Genau das wollten Manuela und ich erreichen. Beiträge, die mich besonders berührt haben, sind unter anderem das Bild von Sita Ngoumou »14. Juli 1884«, das Gedicht »Black Gravity« von Musa Okwonga und der Aufsatz »Unbequeme Geschichte« von Anna Kim.
MB: Es ist schwierig, einzelne Beiträge herauszupicken. Wieder einmal viel gelernt habe ich aber von Isidora Randjelović, die in ihrem Essay die Verfolgungs- und Widerstandsgeschichte der Romni Alfreda Markowska Noncia erzählt und damit eine Unrechtserfahrung anspricht, die nicht nur in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch bei vielen Menschen of Color ent-innert wird. Ich lese ihren Beitrag auch als Mahnung, aktiv zuzuhören.
Habt Ihr eine Vision davon, wie man das, was als »deutsch« gilt, neu denken könnte? Gibt es für Euch Utopien einer alternativen Zukunft, wie Ihr es im Editorial formuliert?
MB: Meine Vision ist die, dass wir irgendwann aufhören, in nationalen und ethnisch homogenisierten Containern zu denken. Insofern geht es meines Erachtens nicht darum, »deutsch« neu zu denken, sondern, ausgehend von der Feststellung, dass »deutsch« – wie alle nationalen Labels – stets und keineswegs zufälligerweise Ausschlüsse produziert, gegen Nationalismen zu arbeiten.
SDO: Was alternative Zukünfte betrifft habe ich das Gefühl: Der Weg ist das Ziel. Wir alle gestalten die Zukunft bereits aktiv. Mein Wunsch, meine Utopie, wäre, in einem Deutschland zu leben, das selbstbewusst und lösungsorientiert mit Diskriminierungskritik umgeht. Mit jedem Projekt, an dem ich arbeite, versuche ich, neue Erkenntnisse zu gewinnen, damit ich zu diesem Ziel besser beitragen kann. Ich habe viel von der Zusammenarbeit mit Manuela gelernt und bin sehr dankbar für die sehr schöne Erfahrung!

Hegemoniale Geschichtserzählungen – etwa über den Kolonialismus – geraten ins Wanken, werden umgeschrieben und neu perspektiviert. Das geschieht aber nicht von selbst, sondern wird auch durch die jahrelangen Kämpfe von Aktivist_innen, beispielsweise Initiativen Schwarzer Menschen und People of Colour, vorangetrieben. Wie lässt sich Geschichte anders schreiben? Ist historisches Unrecht vergleichbar? Lässt sich Geschichte nicht auch dezentriert und komplex erzählen? Die Autorin Sharon Dodua Otoo und die Historikerin Manuela Bauche haben Schriftsteller_innen, Künstler_innen und Akademiker_innen wie Anna Kim, Fatima El-Tayeb, Patrice Nganang und andere nach ihren Visionen gefragt.