Frau Bedenig, Sie leiten das Thomas-Mann-Archiv in Zürich. Welche Aufgaben erfüllt diese Institution?
Katrin Bedenig: Das Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich hat seit seiner Gründung 1956 drei Ziele: Es ist gleichzeitig Archiv, Ausstellungseinrichtung und Forschungsstelle und macht in allen drei Bereichen den Nachlass Thomas Manns der Öffentlichkeit zugänglich. Diese dreifache Ausrichtung ergab sich auf natürliche Weise bereits aus der Schenkung der Familie Mann: Interessanterweise umfasste die Schenkung nicht nur den gesamten literarischen Nachlass, sondern auch die komplette Einrichtung des letzten Arbeitszimmers in Kilchberg mit allen Möbeln und Gebrauchsgegenständen, Kunstwerken und der vollständigen Privatbibliothek. Als öffentliche Einrichtung einer gesamtschweizerischen Hochschule haben wir den Nachlass nicht nur erschlossen, sondern möchten ihn in seiner Gesamtheit der Öffentlichkeit und der Forschung jeweils bestmöglich zugänglich machen: So beraten und unterstützen wir Forschende in ihrem persönlichen Interessensgebiet, beteiligen uns an Editionen, bieten Führungen für Schulen und Kulturreisende an, geben Seminare, führen Lectures durch, stellen Journalisten und Filmemachern Bildmaterial zur Verfügung, leihen Originale an Ausstellungen aus und machen Thomas Manns Arbeitsumgebung in einer Dauerausstellung seines Arbeitszimmers direkt erlebbar.
Wie umfangreich ist Ihre Sammlung?
Katrin Bedenig: Weil das Thomas-Mann-Archiv den gesamten literarischen Nachlass Thomas Manns besitzt, befinden sich hier weltweit die meisten Originalbestände des Autors. Wir verfügen über sämtliche Werkmanuskripte (rund 110.000 Seiten in Handschrift oder als Typoskript), Notizbücher, Tagebücher und Materialiensammlungen, die Thomas Mann am Ende seines Lebens besaß, über den größten Briefbestand von und an Thomas Mann (rund 16.000 Briefe in Original und Kopie an Thomas Mann und 8.000 Originalbriefe an Thomas Mann), über die komplette Nachlassbibliothek des Autors von rund 4.300 Bänden, und darüber hinaus über rund 87.000 historische Presseartikel, 6.000 Fotografien, 400 Grafiken und 400 Tondokumente. Selbstverständlich haben wir seit Gründung des Archivs die Bestände auch laufend erweitert und besitzen inzwischen eine umfangreiche Sammlung an Erstausgaben, Widmungsexemplaren und spezialisierter Forschungsliteratur von rund 20.000 Bänden.
Wie arbeiten das Thomas-Mann-Archiv und der Verlag zusammen?
Roland Spahr: Das Thomas-Mann-Archiv ist für uns seit vielen Jahren ein verlässlicher Partner. Wir arbeiten eng zusammen bei Editionsprojekten, vor allem bei der »Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe« der Werke Thomas Manns (GKFA). Hier stellt das Archiv den Herausgebern Handschriften und Typoskripte zur Verfügung, hilft bei Transkriptionen und Recherchen. Wir realisieren auch gemeinsame Editionen wie derzeit, zusammen mit dem Buddenbrookhaus, die Neuausgabe der Briefe von Heinrich und Thomas Mann. Und das Archiv unterstützt uns großzügig mit Materialien bei unseren Publikationen, die die Familie Mann betreffen. Außerdem sind wir in ständigem Austausch über publikationsrechtliche Fragen vor allem bei unveröffentlichtem Material.
Das Thomas-Mann-Archiv hat die Handschriften aus seinem Bestand digitalisiert. Welchen Gewinn haben LeserInnen und ForscherInnen dadurch?
Katrin Bedenig: Indem wir die Möglichkeit erhielten, unseren Gesamtbestand an Handschriften zu digitalisieren und als Einzeldokumente zu erschließen, können wir der Öffentlichkeit über die Datenbank Thomas-Mann-Archiv-Online gleich zwei Vorteile anbieten: Zum einen sind jetzt sämtliche unserer Werkhandschriften, Materialien, Korrespondenzen, Notizen und Pressedokumentationen weltweit online recherchierbar. Die deutlich erweiterten Abfragemöglichkeiten und die Online-Verfügbarkeit der Metadaten gibt Forschenden, Medienschaffenden und allen interessierten LeserInnen Thomas Manns die Möglichkeit, umfassend, unkompliziert und direkt zu recherchieren. Zum anderen stehen in unserem Lesesaal sämtliche Digitalisate zur Ansicht zur Verfügung. Dies dient nicht nur dem Schutz der Originale, sondern eröffnet den Nutzerinnen und Nutzern die Möglichkeit, so rasch auf so viele Dokumente zuzugreifen, wie sie möchten, ohne Rücksichten auf den Umgang mit fragilen Originalhandschriften nehmen zu müssen. Wir erhalten deshalb von unseren Nutzerinnen und Nutzern sehr häufig die Rückmeldung, dass sie nicht nur von den neuen Möglichkeiten der Online-Recherche begeistert sind, sondern ihnen die parallele Aufrufbarkeit sämtlicher unserer Handschriftenbestände in unserem Lesesaal eine viel effizientere Arbeitsweise ermöglicht.
Screenshot (http://www.online.tma.ethz.ch/home/#/)
Brauchte es viel Überzeugungsarbeit, um den Verlag für dieses Projekt zu gewinnen?
Roland Spahr: Im Gegenteil. Aus unserer Sicht bietet die digitale Erschließung des Nachlasses neue und zeitgemäße Recherche- und Zugangsmöglichkeiten, die auch unsere Arbeit im Lektorat erleichtern. Die hochwertigen Digitalisate lassen sich ohne weiteres zoomen, was bei der Entzifferung schwer lesbarer Stellen äußerst hilfreich ist. Und schließlich werden die Originalhandschriften besser geschützt, wenn sie nicht regelmäßig ausgehändigt und dem Tageslicht ausgesetzt werden. Da wir uns darauf verlassen können, dass das Thomas-Mann-Archiv einerseits die Recherche und die Forschung ermöglicht, andererseits aber den Zugang zu den Digitalisaten ganz im Sinn des Urheberrechts regelt, gab es von unserer Seite keinerlei Vorbehalt gegen dieses Projekt.
Nun werden ausgewählte Handschriften nach und nach öffentlich zugänglich gemacht. Was gibt es konkret zu entdecken?
Katrin Bedenig: Wir freuen uns sehr, dass wir die noch erhaltenen Teile der Urhandschrift der »Buddenbrooks« und die gesamten Werkhandschriften von »Joseph in Ägypten« und »Joseph der Ernährer« online zugänglich machen können, so dass sie auch außerhalb unseres Lesesaals einsehbar sind. Diese absoluten Höhepunkte der Weltliteratur in ihren Handschriften kennenlernen zu können, ist für alle Thomas-Mann-Interessierten sicherlich ein ganz besonderes Erlebnis! Besonders interessant ist außerdem der integrale bei uns erhaltene Originalbriefbestand Thomas Manns aus dem Zeitraum von 1889 bis 1913. Da grundsätzlich aus der Frühzeit vergleichsweise wenige Briefe Thomas Manns erhalten sind, sind die 158 Originale aus dieser Zeit umso wertvoller. Zusätzlich werden sämtliche Notizbücher Thomas Manns aufrufbar sein. Ein »digitales Blättern« in diesen Heften verspricht ein wunderbares Seherlebnis, das die bisherige Edition der Notizbücher sehr schön ergänzt: Die typische Eintragsform der Notizen macht Thomas Manns Arbeitsweise in sehr unmittelbarer Weise erlebbar, und die immer wieder eingestreuten Rechnungen und Skizzen sind von unverwechselbarem visuellem Charakter.
Inhaltsverzeichnis »Joseph in Ägypten« (© ETH-Bibliothek Zürich/Thomas-Mann-Archiv)
Ab sofort ist also der ganze Thomas Mann online zugänglich?
Roland Spahr: Im Moment noch nicht. Bis Ende 2025 hat der S. Fischer Verlag die exklusiven Veröffentlichungsrechte an den Schriften Thomas Manns. Da wir mit der »Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe« ein aufwendiges Editionsprojekt verantworten, das auf den Handschriften, Typoskripten und Notizen im Thomas-Mann-Archiv basiert, werden die Handschriften und Materialien, die im Rahmen der Ausgabe bereits ediert und analysiert worden sind, nach Absprache mit den Erben Thomas Manns ab sofort schrittweise und begleitend zur Edition online gestellt. Siebzig Jahre nach dem Todesjahr des Autors, also ab 2026, wird das Werk Thomas Manns frei zugänglich sein.
Frau Bedenig, welches sind aus Ihrer Sicht die Höhepunkte der neu online zugänglichen Dokumente?
Katrin Bedenig: Ich habe Ihnen die wichtigsten literarischen Werkteile schon genannt, doch aus meiner Sicht ist etwas Zusätzliches der eigentliche verborgene Höhepunkt: Es handelt sich um die »Materialien« zu den »Buddenbrooks«, zu »Joseph in Ägypten«, »Joseph der Ernährer« und »Das Gesetz«. Bisher hat die Forschung auf einzelne Beispiele aus diesem reichen Arbeitsmaterial Thomas Manns hingewiesen, doch war es noch nie möglich, die umfangreichen Materialiensammlungen integral zu veröffentlichen. Ein Blick in diese Sammlungen ermöglicht aber einen direkten Einblick in Thomas Manns Arbeitsweise, in die ganze Bandbreite seiner Quellen und Bezüge. Wir finden darin vielfältiges Bildmaterial, Presseartikel, eigenhändige Notizen und Informationen Dritter. Es ist ein überaus reiches Spektrum, woraus jedes Einzelstück für sich erfahrbar gemacht wird.
Graphik von Albrecht Schmidt: »Josephs Keuschheit und Flucht« aus den Materialien zum »Joseph« (© ETH-Bibliothek Zürich/Thomas-Mann-Archiv)

Hans Wysling schreibt in seiner Einführung zu dieser Edition:
»In Thomas Manns Nachlaß liegen 14 Notizbücher aus der Zeit von 1893-1937, mit einem Nachtrag von 1947. Das früheste enthält noch Notizen des Lübecker Schülers, in den letzten finden sich Hinweise zum ›Zauberberg‹ und zum ›Joseph‹. Am ergiebigsten sind die Einträge zu ›Buddenbrooks‹, ›Fiorenza‹, ›Die Geliebten (Maja)‹. ›Königliche Hoheit‹, ›Geist und Kunst‹ und den ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹; aber auch von den Vorarbeiten zu vielen kleineren Werken sind Spuren vorhanden. Die Notizbücher sind um so wertvoller, als Thomas Mann die Tagebücher aus der Zeit vor 1933 mit Ausnahme jener von 1918-1921 verbrannt hat.
Die Einträge sind fast durchwegs werkbezogen. Thomas Mann hält Titel geplanter Werke fest, notiert sich Motive, erste psychologische Aperçus zu Charakteren, stellt eigentliche Wörterlisten zusammen – all dies vor, aber auch während der Niederschrift eines Werkes, so daß sich die Entstehungsgeschichte oft bis ins einzelne verfolgen läßt. Bei den ›Buddenbrooks‹ z.B. stehen der erste und der letzte Satz schon seit den frühesten Eintragungen fest. Von besonderem Interesse sind die Notizbücher auch für den Quellenforscher.«
Der Korpus der Notizbücher wird in zwei Bänden publiziert. Dieser erste Band enthält die Eintragungen aus frühen Schaffensjahren des Schriftstellers. Es sind veritable Notizbücher, meist durchaus unterschieden von der stilisierten Ichspiegelung der Tagebücher. Äußeres und Inhalt eines jeden Notizbuchs werden von den Herausgebern genau beschriebe, die Einträge mit subtiler Kennerschaft in einer Fülle knapp formulierter Fußnoten kommentiert, Verwendung und Verwandlung der Stichworte und Zitate in den Werken aufgespürt.
Rasche, knappe Aufzeichnungen – doch von Anfang an belegt sich in ihnen eine literarische Existenz und damit ein Stück Werkgeschichte oder Geschichte einzelner Werke Thomas Manns.