Zur Eröffnung der Basler Buchmesse
Als ich noch unsterblich war …,
als ich noch unsterblich war und der Tod nur ein Rätsel, das stets die anderen betraf, aber weder mich noch meine Brüder, meine Schwester, meine Eltern, ja keinen einzigen meiner Nächsten und Liebsten, sondern immer nur die anderen – Nachbarn, Bauern, Handwerker meines Dorfes, die mit gefalteten, von Rosenkränzen umwundenen Händen und seltsam wächsernen Gesichtern in ihren offenen Särgen auf einem Katafalk der Friedhofskapelle aufgebahrt lagen. Der Kirchenchor sang jedesmal Näher mein Gott zu dir, bevor die Wachsfiguren zu ihren Gräbern im Schatten der Kirche getragen wurden, lehmigen Gruben, die mir als Tunnels oder Stollen erschienen, die sowohl in die Abgründe des Himmels wie jene der Hölle führen konnten …
Als ich noch unsterblich war und meine Tage als kindlicher Analphabet fern aller Stundenpläne und Schulordnungen in märchenhafte Spiele vertieft verbrachte, deren chaotische Regeln ich allein bestimmen durfte, wurden mir manchmal selbst die Mahlzeiten zum Spiel. Dann saß ich vor einem weißen, mit klarer Suppe gefüllten Porzellanteller mit brüchigem Goldrand und fischte mit meinem Löffel nach den vollgesogenen, in Strudeln dahinwirbelnden Elementen der Suppeneinlage – zierlichen Buchstaben aus Teig von der Größe einer Erbse oder einer Johannisbeere, die ich dann entlang des Tellerrandes zu halbkreisförmigen Kolonnen mit wechselnden Bedeutungen anordnete:
Einmal war mein vom Fett der Suppe wie lackierter Fang eine Tierkarawane, beispielsweise auf dem Weg zu den Fallreeps der Arche Noah – denn auch wenn ich noch lange nicht lesen konnte, wußte ich doch aus den Erzählungen einer Magd, die jeden Freitag gemeinsam mit meiner Mutter auf einem Rutschbrett kniend die Holzböden unserer Wohnung mit Reisbürste und Schmierseife schrubbte, daß die Welt, auch unser Dorf, alle Dörfer, schon einmal von einem wütenden, allmächtigen Gott mit einer ungeheuren Flut von allen Menschen reingewaschen und nur ein Mann namens Noah verschont worden war. Nur dieser Noah hatte einer himmlischen Warnung geglaubt und rechtzeitig eine Arche gebaut, mit der er sich und seine Frau und je ein Paar unschuldiger Tiere vor dem Untergang retten konnte.
Am Mittagstisch, an dem stets ein unsichtbarer Sohn dieses gefährlichen, alle Ströme und Meere beherrschenden Gottes neben mir saß – O Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast –, konnte unter dem Eindruck der Sintfluterzählungen der Magd beispielsweise das aus meiner Buchstabensuppe gefischte O zur Schildkröte werden oder zu einem Karpfen, das S zu einer Schlange, einem Aal, einer Eidechse, das W zum Schmetterling und das B zu einer Katze, die auf der Lauer saß … Ein anderes Mal wiederum glänzte das in Schlachtordnung gereihte Teigalphabet als Reiterarmee in fettschimmernden Rüstungen oder als Horde heranjagender Indianer, deren Stammesführer, ein Q, einen blutigen Dolch, im Gürtel trug. Auch in ein Elfenheer, das sich an der Goldrandküste eines unter meinen Löffelschlägen stürmisch gewordenen Meeres zum Kampf gegen anbrandende, in Teufelsquallen verzauberte Fettaugen formierte, hatte ich meine Teigsymbole gelegentlich verwandelt.
Meine Mutter, eine liebevolle, mit jahrhundertealten Märchen und Liedern vertraute Frau, die das ihrem Leben fehlende Glück nach schmerzlichen Enttäuschungen allein in der Erziehung ihrer vier Kinder suchte, duldete, ja förderte alle diese Verwandlungen, solange dabei ein Grundgesetz nicht verletzt wurde: Die Suppe sollte über allem Zauber nicht kalt werden. Sie brachte von jedem einmal monatlich unternommenen Großeinkauf im Dorfladen einen neuen, knisternden Zellophansack voll Teigbuchstaben mit, zwischen denen sich zu meiner Begeisterung manchmal auch noch die Larven von Lebensmittelmotten wanden, blinde, hilflose Würmchen, die inmitten zahlloser ungekochter Buchstaben ihre Verwandlung in geflügelte, von der Schwerkraft befreite Luftwesen erwarteten. Meine Mutter beließ mir lange Zeit jede Freiheit, das schwimmende, eßbare Alphabet als Symbolsammlung für alles zu nehmen, was mir gerade durch den Kopf huschte und ein W ebensogut zum gaukelnden Zitronenfalter als auch zum dornenbewehrten Alien aus den Tiefen des Sternenhimmels erklären konnte.
Erst allmählich und Teigzeichen für Teigzeichen begann sie, mir wie ein kostbares, nur auserwählten Eingeweihten vorbehaltenes Geheimnis zu verraten, ja, zu verraten, daß ein O nicht bloß eine Schildkröte und ein S nicht bloß eine Schlange sein, sondern jedes einzelne, aus meinem goldenen Meer gefischte Zeichen eine Bedeutung haben konnte, die mir zunächst recht bescheiden erschien, dann aber weit, weit über den symbolischen Zauber hinausreichte: Offensichtlich konnte jeder, der über einen Schlüssel zum Verständnis dieses Geheimnisses verfügte, seinen vom Löffel auf den Porzellanstrand gekippten Fang nicht bloß zu Reiterkolonnen oder Elfenheeren formieren, sondern zu Worten, Namen, ja ganzen Sätzen! und so alles, was er in dieser Welt sah, was er hörte, dachte oder an Wünschen an ein weihnachtliches, Geschenke überbringendes Himmelskind oder eine Pralinen spendende Tante auflisten wollte, in Sprache, in Schrift verwandeln. Ein einziges, zu Buchstaben aus Teig oder Tinte geronnenes Wort vermochte die geheimsten Gedanken seines Schreibers nicht bloß über Suppenteller und Küchentische hinweg, über Gebirge, Meere und Kontinente tragen, sondern ihn über die Zeit erheben und noch lesbar bleiben, wenn er selber bereits seit Jahren oder Jahrhunderten wieder verstummt war.
Natürlich war meine Enttäuschung groß, als ich vor meinem Suppenteller auch lernen mußte, daß Schrift nicht bloß aus einem einzigen, sondern aus unzähligen Alphabeten bestand, von denen ich mit dem griechischen und kyrillischen sogar einige im Bücherregal meines Vaters entdecken sollte, auf dem die Abenteuer des Odysseus im Homerischen Original und die Helden Dostojewskis, Gogols, Turgenjews oder Tolstois in ihrer russischen Fassung noch lange – zumindest was das Original anbelangte – vergeblich auf mich warten mußten.
Aber ich lernte an meinem Porzellanstrand zumindest die Muttersprache lesen und schreiben, ordnete meinen Fang aus dem Suppenozean zu immer neuen Worten und empfand ein seltsam machtvolles Glück bei dem Gedanken, daß ich, was in manchen Märchenbüchern als endlose Wasserwüste abgebildet war oder sich unter Stürmen zu tosenden Wellengebirgen erhob und selbst die größten Inseln und Kontinente auf dem schartigen Globus der Dorfbibliothek wie Flöße erscheinen ließ, nun, als Eingeweihter in das Geheimnis der Schrift, mit vier aus Teig geformten Buchstaben in das Wort MEER verwandeln konnte. Was an die Küsten der wirklichen Welt brandete, mochte ganze Flotten tragen und Eisberge und schäumende Züge von Walen, Delphinen und fliegenden Fischen beherbergen und war doch, sprach oder schrieb man von diesem Wasserreich, mit nur vier Buchstaben in ein kurzes, noch auf einem Fingernagel Platz findendes Wort zu bannen … Und für den Zauber dieser Metamorphose bedurfte es nicht mehr als jener Kräfte, die jeder Mensch in sich selber trug und die in seinem Kopf nur darauf warteten, eingesetzt zu werden und die Welt und alles, was noch unausgesprochen war, zur Sprache zu bringen.
Wenn ich meine Lettern auf dem Tellerrand gelegentlich zu einem Satz wie ICH BIN NICHT HUNGRIG auslegte, dann hätte ich, sagte meine Mutter, meine erste Lehrerin, bloß ein weiteres Beispiel dafür erbracht, daß die bisher größte, allergrößte Erfindung der Menschheit nicht das Rad, nicht die Rakete oder gar das Schießpulver gewesen sei, sondern die Erfindung der Schrift.
Daß man im Wort Meer nicht ertrinken, in das Wort Abgrund nicht fallen und im Wort Packeis nicht erfrieren konnte, schenkte dem Zauber der Verwandlung von etwas in Sprache etwas seltsam Friedliches, so, als ob man sich mit Büchern und anderen Schriften besser als mit jedem Unverwundbarkeit oder Unsichtbarkeit schenkenden Zauber wappnen und bereit machen konnte, aus dem Inneren von Märchen und Erzählungen hinauszutreten in die donnernde, anrollende Welt und dort zu jagen, zu lieben, Städte zu bauen – oder Krieg zu führen. Denn Worte waren, auch das lernte ich am Porzellanstrand, Worte waren wie die Menschen, die sie aussprachen, schrieben oder lasen – nicht nur gut; sie konnten sein wie Luzifer, der Lichtbringer, der aus dem Himmel in die Finsternis gestürzt und vom Engel zum Satan geworden war.
Je länger ich saß und dabei manchmal die Suppe doch kalt werden ließ und mit meinem Tagesfang spielte, desto weiter jagten die Grenzen des Reiches der Sprache in alle Himmelsrichtungen davon und ließen, was mit einer Handvoll Buchstaben zu erreichen war, grenzenlos erscheinen. Als ich erfuhr, daß es eine Sprache gab, das Griechische, in der mein eigener Vorname Christusträger bedeutete, war ich nicht etwa stolz, sondern besorgt, daß auch dieser Name sich im rasenden Wandel der Bedeutungen wie Luzifers Name in sein Gegenteil wenden und irgendwann Teufelsträger heißen und mir ein Höllenwesen mit Glutaugen und hängender Zunge auf die Schultern setzen würde. Aber meine Mutter sagte: Es liegt an dir. Du hast mit einem Löffel voll Buchstaben, dein Leben, die Welt in der Hand.
Als meine erste Lehrerin, kaum sechzigjährig, an einem heißen Augusttag starb, zart und zerbrechlich zwischen riesigen Kissen und gezeichnet von den Qualen und Metastasen einer wütenden Krankheit – und ich an ihrem Bett verzweifelt um Worte rang, mit denen ich eine Brücke zu der schon beinah Entschwundenen schlagen wollte, öffnete sie plötzlich die Augen, hob langsam, zu Tode erschöpft, ihre Hand und legte ihren Zeigefinger wortlos auf ihre weißen Lippen: Still. Still. Sei still. Magst ruhig sein. Und beließ, als sie die Augen wieder schloß, dieses Zeichen auf ihrem Mund, als ob sie in einem letzten Traum noch einmal an unseren Porzellanstrand zurückkehren und dort ihren vom Wirbel der Buchstaben betörten Schüler daran erinnern wollte, daß bei aller Kostbarkeit und allem Glanz des Zaubers der Verwandlung von etwas in Sprache, in Schrift, der ungeheuerliche und unfaßbare, in den Abgründen eines grenzenlosen Raumes verlorene Rest doch – Schweigen war.
Als ich noch unsterblich war …,
als ich noch unsterblich war und der Tod nur ein Rätsel, das stets die anderen betraf, aber weder mich noch meine Brüder, meine Schwester, meine Eltern, ja keinen einzigen meiner Nächsten und Liebsten, sondern immer nur die anderen – Nachbarn, Bauern, Handwerker meines Dorfes, die mit gefalteten, von Rosenkränzen umwundenen Händen und seltsam wächsernen Gesichtern in ihren offenen Särgen auf einem Katafalk der Friedhofskapelle aufgebahrt lagen. Der Kirchenchor sang jedesmal Näher mein Gott zu dir, bevor die Wachsfiguren zu ihren Gräbern im Schatten der Kirche getragen wurden, lehmigen Gruben, die mir als Tunnels oder Stollen erschienen, die sowohl in die Abgründe des Himmels wie jene der Hölle führen konnten …
Als ich noch unsterblich war und meine Tage als kindlicher Analphabet fern aller Stundenpläne und Schulordnungen in märchenhafte Spiele vertieft verbrachte, deren chaotische Regeln ich allein bestimmen durfte, wurden mir manchmal selbst die Mahlzeiten zum Spiel. Dann saß ich vor einem weißen, mit klarer Suppe gefüllten Porzellanteller mit brüchigem Goldrand und fischte mit meinem Löffel nach den vollgesogenen, in Strudeln dahinwirbelnden Elementen der Suppeneinlage – zierlichen Buchstaben aus Teig von der Größe einer Erbse oder einer Johannisbeere, die ich dann entlang des Tellerrandes zu halbkreisförmigen Kolonnen mit wechselnden Bedeutungen anordnete:
Einmal war mein vom Fett der Suppe wie lackierter Fang eine Tierkarawane, beispielsweise auf dem Weg zu den Fallreeps der Arche Noah – denn auch wenn ich noch lange nicht lesen konnte, wußte ich doch aus den Erzählungen einer Magd, die jeden Freitag gemeinsam mit meiner Mutter auf einem Rutschbrett kniend die Holzböden unserer Wohnung mit Reisbürste und Schmierseife schrubbte, daß die Welt, auch unser Dorf, alle Dörfer, schon einmal von einem wütenden, allmächtigen Gott mit einer ungeheuren Flut von allen Menschen reingewaschen und nur ein Mann namens Noah verschont worden war. Nur dieser Noah hatte einer himmlischen Warnung geglaubt und rechtzeitig eine Arche gebaut, mit der er sich und seine Frau und je ein Paar unschuldiger Tiere vor dem Untergang retten konnte.
Am Mittagstisch, an dem stets ein unsichtbarer Sohn dieses gefährlichen, alle Ströme und Meere beherrschenden Gottes neben mir saß – O Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast –, konnte unter dem Eindruck der Sintfluterzählungen der Magd beispielsweise das aus meiner Buchstabensuppe gefischte O zur Schildkröte werden oder zu einem Karpfen, das S zu einer Schlange, einem Aal, einer Eidechse, das W zum Schmetterling und das B zu einer Katze, die auf der Lauer saß … Ein anderes Mal wiederum glänzte das in Schlachtordnung gereihte Teigalphabet als Reiterarmee in fettschimmernden Rüstungen oder als Horde heranjagender Indianer, deren Stammesführer, ein Q, einen blutigen Dolch, im Gürtel trug. Auch in ein Elfenheer, das sich an der Goldrandküste eines unter meinen Löffelschlägen stürmisch gewordenen Meeres zum Kampf gegen anbrandende, in Teufelsquallen verzauberte Fettaugen formierte, hatte ich meine Teigsymbole gelegentlich verwandelt.
Meine Mutter, eine liebevolle, mit jahrhundertealten Märchen und Liedern vertraute Frau, die das ihrem Leben fehlende Glück nach schmerzlichen Enttäuschungen allein in der Erziehung ihrer vier Kinder suchte, duldete, ja förderte alle diese Verwandlungen, solange dabei ein Grundgesetz nicht verletzt wurde: Die Suppe sollte über allem Zauber nicht kalt werden. Sie brachte von jedem einmal monatlich unternommenen Großeinkauf im Dorfladen einen neuen, knisternden Zellophansack voll Teigbuchstaben mit, zwischen denen sich zu meiner Begeisterung manchmal auch noch die Larven von Lebensmittelmotten wanden, blinde, hilflose Würmchen, die inmitten zahlloser ungekochter Buchstaben ihre Verwandlung in geflügelte, von der Schwerkraft befreite Luftwesen erwarteten. Meine Mutter beließ mir lange Zeit jede Freiheit, das schwimmende, eßbare Alphabet als Symbolsammlung für alles zu nehmen, was mir gerade durch den Kopf huschte und ein W ebensogut zum gaukelnden Zitronenfalter als auch zum dornenbewehrten Alien aus den Tiefen des Sternenhimmels erklären konnte.
Erst allmählich und Teigzeichen für Teigzeichen begann sie, mir wie ein kostbares, nur auserwählten Eingeweihten vorbehaltenes Geheimnis zu verraten, ja, zu verraten, daß ein O nicht bloß eine Schildkröte und ein S nicht bloß eine Schlange sein, sondern jedes einzelne, aus meinem goldenen Meer gefischte Zeichen eine Bedeutung haben konnte, die mir zunächst recht bescheiden erschien, dann aber weit, weit über den symbolischen Zauber hinausreichte: Offensichtlich konnte jeder, der über einen Schlüssel zum Verständnis dieses Geheimnisses verfügte, seinen vom Löffel auf den Porzellanstrand gekippten Fang nicht bloß zu Reiterkolonnen oder Elfenheeren formieren, sondern zu Worten, Namen, ja ganzen Sätzen! und so alles, was er in dieser Welt sah, was er hörte, dachte oder an Wünschen an ein weihnachtliches, Geschenke überbringendes Himmelskind oder eine Pralinen spendende Tante auflisten wollte, in Sprache, in Schrift verwandeln. Ein einziges, zu Buchstaben aus Teig oder Tinte geronnenes Wort vermochte die geheimsten Gedanken seines Schreibers nicht bloß über Suppenteller und Küchentische hinweg, über Gebirge, Meere und Kontinente tragen, sondern ihn über die Zeit erheben und noch lesbar bleiben, wenn er selber bereits seit Jahren oder Jahrhunderten wieder verstummt war.
Natürlich war meine Enttäuschung groß, als ich vor meinem Suppenteller auch lernen mußte, daß Schrift nicht bloß aus einem einzigen, sondern aus unzähligen Alphabeten bestand, von denen ich mit dem griechischen und kyrillischen sogar einige im Bücherregal meines Vaters entdecken sollte, auf dem die Abenteuer des Odysseus im Homerischen Original und die Helden Dostojewskis, Gogols, Turgenjews oder Tolstois in ihrer russischen Fassung noch lange – zumindest was das Original anbelangte – vergeblich auf mich warten mußten.
Aber ich lernte an meinem Porzellanstrand zumindest die Muttersprache lesen und schreiben, ordnete meinen Fang aus dem Suppenozean zu immer neuen Worten und empfand ein seltsam machtvolles Glück bei dem Gedanken, daß ich, was in manchen Märchenbüchern als endlose Wasserwüste abgebildet war oder sich unter Stürmen zu tosenden Wellengebirgen erhob und selbst die größten Inseln und Kontinente auf dem schartigen Globus der Dorfbibliothek wie Flöße erscheinen ließ, nun, als Eingeweihter in das Geheimnis der Schrift, mit vier aus Teig geformten Buchstaben in das Wort MEER verwandeln konnte. Was an die Küsten der wirklichen Welt brandete, mochte ganze Flotten tragen und Eisberge und schäumende Züge von Walen, Delphinen und fliegenden Fischen beherbergen und war doch, sprach oder schrieb man von diesem Wasserreich, mit nur vier Buchstaben in ein kurzes, noch auf einem Fingernagel Platz findendes Wort zu bannen … Und für den Zauber dieser Metamorphose bedurfte es nicht mehr als jener Kräfte, die jeder Mensch in sich selber trug und die in seinem Kopf nur darauf warteten, eingesetzt zu werden und die Welt und alles, was noch unausgesprochen war, zur Sprache zu bringen.
Wenn ich meine Lettern auf dem Tellerrand gelegentlich zu einem Satz wie ICH BIN NICHT HUNGRIG auslegte, dann hätte ich, sagte meine Mutter, meine erste Lehrerin, bloß ein weiteres Beispiel dafür erbracht, daß die bisher größte, allergrößte Erfindung der Menschheit nicht das Rad, nicht die Rakete oder gar das Schießpulver gewesen sei, sondern die Erfindung der Schrift.
Daß man im Wort Meer nicht ertrinken, in das Wort Abgrund nicht fallen und im Wort Packeis nicht erfrieren konnte, schenkte dem Zauber der Verwandlung von etwas in Sprache etwas seltsam Friedliches, so, als ob man sich mit Büchern und anderen Schriften besser als mit jedem Unverwundbarkeit oder Unsichtbarkeit schenkenden Zauber wappnen und bereit machen konnte, aus dem Inneren von Märchen und Erzählungen hinauszutreten in die donnernde, anrollende Welt und dort zu jagen, zu lieben, Städte zu bauen – oder Krieg zu führen. Denn Worte waren, auch das lernte ich am Porzellanstrand, Worte waren wie die Menschen, die sie aussprachen, schrieben oder lasen – nicht nur gut; sie konnten sein wie Luzifer, der Lichtbringer, der aus dem Himmel in die Finsternis gestürzt und vom Engel zum Satan geworden war.
Je länger ich saß und dabei manchmal die Suppe doch kalt werden ließ und mit meinem Tagesfang spielte, desto weiter jagten die Grenzen des Reiches der Sprache in alle Himmelsrichtungen davon und ließen, was mit einer Handvoll Buchstaben zu erreichen war, grenzenlos erscheinen. Als ich erfuhr, daß es eine Sprache gab, das Griechische, in der mein eigener Vorname Christusträger bedeutete, war ich nicht etwa stolz, sondern besorgt, daß auch dieser Name sich im rasenden Wandel der Bedeutungen wie Luzifers Name in sein Gegenteil wenden und irgendwann Teufelsträger heißen und mir ein Höllenwesen mit Glutaugen und hängender Zunge auf die Schultern setzen würde. Aber meine Mutter sagte: Es liegt an dir. Du hast mit einem Löffel voll Buchstaben, dein Leben, die Welt in der Hand.
Als meine erste Lehrerin, kaum sechzigjährig, an einem heißen Augusttag starb, zart und zerbrechlich zwischen riesigen Kissen und gezeichnet von den Qualen und Metastasen einer wütenden Krankheit – und ich an ihrem Bett verzweifelt um Worte rang, mit denen ich eine Brücke zu der schon beinah Entschwundenen schlagen wollte, öffnete sie plötzlich die Augen, hob langsam, zu Tode erschöpft, ihre Hand und legte ihren Zeigefinger wortlos auf ihre weißen Lippen: Still. Still. Sei still. Magst ruhig sein. Und beließ, als sie die Augen wieder schloß, dieses Zeichen auf ihrem Mund, als ob sie in einem letzten Traum noch einmal an unseren Porzellanstrand zurückkehren und dort ihren vom Wirbel der Buchstaben betörten Schüler daran erinnern wollte, daß bei aller Kostbarkeit und allem Glanz des Zaubers der Verwandlung von etwas in Sprache, in Schrift, der ungeheuerliche und unfaßbare, in den Abgründen eines grenzenlosen Raumes verlorene Rest doch – Schweigen war.
Aus: Christoph Ransmayr, Gerede
Erschienen im Februar 2014 bei S. Fischer
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014