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Hundertvierzehn | Bericht
»Sie sollten in die Politik gehen... «

Undine Zimmer war in den vergangenen Wochen auf Einladung des DAAD als »Writer in Residence« in England unterwegs. In Sheffield diskutierte sie u. a. mit Studenten über ihr Buch ›Nicht von schlechten Eltern‹ und war zu Gast im House of Commons. Für uns hat sie einen Reisebericht geschrieben

 
Undine Zimmer

Undine Zimmer, geboren 1979, studierte in ihrer Heimatstadt Berlin Skandinavistik, Neuere Deutsche Literatur und Publizistik. Sie schrieb nach Stationen u.a. bei der »Zeit« und »AVIVA-Berlin« als freie Journalistin für verschiedene Publikationen. Für ihre Reportage ›Meine Hartz-IV-Familie‹, erschienen im »Zeit-Magazin«, war sie 2012 in der Kategorie Essay für den Henri-Nannen-Preis nominiert. Sie lebt in Berlin und Reutlingen.

I - Sheffield

Manchmal werden formelle Begegnungen plötzlich persönlich: »Sie sollten in die Politik gehen. Sie haben so viel zu geben und Sie verkaufen sich unter Wert.« Worte, die mich innerlich taumeln lassen, vor Freude über das Lob - und vor Angst vor möglichen Konsequenzen, wenn ich diesem Rat folgen würde. Ich bin in Sheffield, auf fremdem Terrain, Englisch ist nicht meine Muttersprache. Zum Glück hatten einige Studenten Abschnitte meines Buches in einem Workshop übersetzt. Diese Abschnitte haben wir gestern Abend vor der Diskussionsrunde abwechselnd auf Deutsch und Englisch gelesen. Ein tolles Gefühl. Hätte es mein Buch auf Englisch gegeben, ich bin sicher ich hätte an diesem Abend einige Exemplare verkauft. Dennoch habe mich schwer getan mit dieser Präsentation. Bei der Diskussion hinterher mit der Schuldnerberatung in Sheffield, einer Wohlfahrtsorganisation, einem Deutschprofessor und Julie Dore vom Sheffield City Council habe ich nur die Hälfte verstanden. Politisches Englisch ist anders als das Englisch der Fernsehserien, die ich gerne gucke. Julie Dore ist irgendjemand von der Stadtverwaltung, dachte ich, als ich das Programm gelesen habe. Keiner den ich gefragt habe, wusste es so genau. Es stellt sich heraus: Julie Dore ist das leitende Organ des Stadtrats. Sie gehört zur Labour-Partei sie trifft die wichtigen politischen Entscheidungen der Stadt und sie lädt mich für den nächsten Tag ins Rathaus ein.Im Rathaus Sheffield wird noch in voller Robe und mit Perücke debattiert © Undine Zimmer Und nun sitze ich hier, nachdem mich ihre Sekretärin durch die Ahnengalerie der Stadtväter und -mütter geführt hat, durch das Foyer mit dem Stadtsilber und der Vitrine von Sheffields berühmtesten Stahlproduzenten, vorbei an der Büste von Queen Elizabeth und in die der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Sitzungssäle. Das Inventar ist mindestens 120 Jahre alt.An den kleinen Pulten sitzen die Halter für die Schreibfedern noch immer am gleichen Platz wie früher. Man sieht noch die Halter für die Schreibfedern © Undine Zimmer Heute sind sie nur noch Dekoration neben einem elektrischen Gerät mit Mikrophon. Ich unterhalte mich mit der Stadträtin über ihre Herkunft. Arbeiterfamilie. Aber Bücher gab es auch Zuhause. Der Vater hat auf Baustellen Backsteine auf dem Rücken die Leitern hochgetragen. Harte Arbeit. Unterbezahlt. Deswegen ist Julie Dore in die Politik gegangen. Hat sich von Praktika und Jobs beiDen Untersetzer mit Wappen der Stadt Sheffield trage ich wie einen Orden © Undine Zimmer sozialen Trägern bis auf die Position der Stadträtin hochgearbeitet. Ihr Vater hat ihr immer gesagt »Niemand ist besser als du. Aber du darfst auch nicht vergessen, dass du nicht besser bist als die anderen, es sei denn sie beweisen es dir.« Sie schenkt mir zum Abschied einen Untersetzter mit dem Wappen der Stadt. Natürlich aus Stahl. Sheffield ist die City of Steel und produziert heute mehr Stahl denn je. Allerdings auch mit weniger Arbeitskraft denn je. Den Untersetzter trage ich wie einen Orden nach Hause.

II - Cambridge

Ich muss immer an Hermann Hesses Glasperlenspiel denken, wenn ich in Cambridge bin. Die ganze Stadt ist ein Uni-Campus aus den romantischsten Studententräumen. Ein College neben dem anderen.Wer ist drinnen, wer ist draußen - der Campus von Cambridge © Undine Zimmer Es muss noch ein anderes Cambridge geben hinter diesen Mauern, das Cambridge der Friseure, Buchhändler, Markständebesitzer, Bäcker und Kellner. Aber davon nimmt man als Besucher nichts wahr. Man will in das Innenleben der Colleges drängen, tiefer als die Touristen es dürfen, wenn sie drei Pfund bezahlen, um einmal den Collegegarten zu besuchen oder King's Chapel. Die Größte Kapelle auf dem Campus. Wegen ihr ist Kings College auch in den roten Zahlen, höre ich jemanden munkeln, denn wer die größten alten Gebäude hat, muss sie auch erhalten. Ich bin dieses Mal privilegiert. Mein Bild hängt in den engen Gassen, an den Pinnwänden vor den Speisesälen. Vor kurzem habe ich mich selbst in Cambridge gefunden © Undine ZimmerIch bin hier als »Writer in Residence«. Ich spreche einmal mit den englischen Deutschstudenten über Soziale Identität oder über Betroffenheitskultur. Zum Creative Writing Workshop kommt gerade einer. »Das ist normal hier«, sagt die Lektorin. »Die Studenten sind in der Examensphase und sie haben so viel Angebot. « 1 zu 1 Betreuung und eine 24 Stunden Notfallhotline für Prüfungsnervenzusammenbrüche. »Engländer weinen schell«, sagt eine andere Kollegin trocken. Zur Lesung kommen zwanzig Studenten und Lehrkräfte.Jedes College hat sein Wappen © Undine Zimmer Für Cambridge ein großer Erfolg. Obwohl hier von außen alles groß scheint, ist innen alles klein: kleine Kurse, Supervision zu zweit und einen persönlichen Ansprechpartner. Nur die abendlichen Dinner sind wieder groß.Tafelsilber, Holzvertäfelte Säle mit großen Ölgemälden der berühmtesten Studenten: Newton, Wittgenstein, Lord Byron, Charles Darwin. Angeblich wurde die DNA hier entdeckt. Nicht beim formellen Dinner – sondern in einem Pub.

Beim Abendessen, einem Drei-Gänge-Menü, befinde ich mich neben den Lehrenden auf dem Podest, das uns 10 Zentimeter über die Studenten erhebt.Die Angestellten der Colleges sitzen 10cm höher als die Studenten © Undine Zimmer Die Studenten tragen schwarze Umhänge, die Lehrenden etwas andere schwarze Umhänge. Ohne die darf man nicht am Dinner teilnehmen. Für Gäste gilt Anzug oder elegante Abendgarderobe. Der Gong erklingt, das lateinische Gebet, dann dürfen wir uns setzen. Die Sitzordnung ist wichtig. Beim ersten Gang unterhält man sich mit dem Nachbarn zur Rechten, beim zweiten mit dem zur Linken. Beim dritten wie es sich ergibt. Gong. Lateinisches Gebet. Wir auf dem Podest verlassen den Saal zuerst. Wir betreten ein Nebenzimmer, nicht zugänglich für Studenten. Neue Sitzordnung ist Pflicht, keiner sitzt neben dem gleichen Nachbarn. Im Kerzenschein serviert ein Kellner Portwein, Kaffee oder Tee. Eine dreistöckige Obstschale wird herumgereicht bis zum tiefen Glockenschlag der Standuhr. Und über alles, was zu dieser Stunde von den klügsten lebenden Köpfen Europas besprochen wird, muss ich schweigen.

III - London

Zum Abschluss meines Englandaufenthalts absolviere ich eine Diskussionsrunde im Parlament, im House of Commons. Der »Schattenminister« ist dabei, das heißt ein amtierender Politiker aus der Opposition, eine Vertreterin der Gewerkschaft, ein Oxford-Professor (ehemals Deutscher, in 10 Jahren völlig assimiliert, sein Deutsch hat einen Knick), eine Gesellschaft die auf nationaler Ebene für Teilhabe agiert und die Veranstalter der Friedrich Ebert Stiftung. Eine hochkarätige Runde im House of Commons © Undine Zimmer Hier ist alles imposant, allein die Begriffe »Think Tank«, »Jubilee Room«, Wächter stehen draußen. Hier bin ich, obwohl Mitglied der Diskussionsrunde, nur Zaungast. Ich werde Zeuge der Netzwerkwelt: Wer mit wem, wo und wann ist unglaublich wichtig. Als ich mit meinem Statement dran bin, merke ich, dass meine Notizzettel in der falschen Reihenfolge liegen. Meine Hände fangen an zu zittern. Mein Nachbar sortiert sie mir schnell. Dann gehts. Trotzdem peinlich, Dinge die sonst nur anderen passieren. Nach unseren Präsentationen richten sich alle Fragen an den Schattenminister Stephen Timms (Labour) und an sein Parteiprogramm. Klar, was für eine Gelegenheit. Wer kann es den zuhörenden Journalisten, Professoren, Politikern verdenken. Timms Antworten sind wenig überraschend: »Wir haben jetzt eine Idee, wenn die Regierung es zulässt ...« oder »Wir wollten ja schon vor Jahren, aber die Regierung war dagegen...«, und »Die Lösung, die wir jetzt zu bieten haben, garantiert dass ...«. Eine Frau schleicht sich in den letzten Minuten des Panels in den Saal. Sie muss über fünfzig sein, blondiert. Nach dem Abschluss geht sie zielstrebig auf alle Teilnehmer des Panels zu, um Visitenkarten zu tauschen. Sie fragte mich immer wieder »Gehören Sie zu der und der Organisation?« »Nein, Madam, ich muss sie enttäuschen. Ich bin nur eine deutsche Autorin. Meine Karte bringt ihnen gar nichts.« Letzteres hab ich nur gedacht. Sie versteht und drängt mir auch nicht anstaltshalber ihre Karte auf. Also das mit der Politik, das muss ich mir noch mal gut überlegen.

Nicht von schlechten Eltern

Ein authentischer Erfahrungsbericht: eine Kindheit am Rande der Gesellschaft

Wir sind die Summe der Erfahrungen, die wir machen. Für ein Hartz IV-Kind zählen aber auch die, die es nicht macht: wie Familienurlaub, Klassenausflug, Musikunterricht oder einfach mal ein Eis essen gehen.
Für Undine Zimmer war das die Realität. In einem ganz eigenen, souveränen Ton erzählt sie davon, was das tatsächlich bedeutet: von ihren Eltern, die als »nicht integrierbar in den Arbeitsmarkt« gelten, von mitleidigen Lehrern, verständnislosen Sachbearbeitern, der Furcht, bloßgestellt zu werden und dem ständigen Gefühl, nicht dazuzugehören. Jenseits aller Klischees gibt sie einen Einblick in eine Welt, über die zwar viel geredet wird, aber von der kaum wirklich jemand etwas weiß. Ein einfühlsamer und authentischer Bericht, der zeigt, dass Chancengleichheit und Klassenlosigkeit in Deutschland immer noch unerreichte Ziele sind.

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Frankfurt am Main 2020
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