In Aldous Huxleys Schöner Neuer Welt haben neuerdings nicht mehr die »Herren Weltaufsichtsräte« oder »Überwacher« das Sagen, sondern »Weltcontroller«.
Die Gründe, die für die Neuübersetzung eines fremdsprachigen Klassikers sprechen, sind vielfältig; gern werden sie zu der Feststellung verkürzt, dass Übersetzungen altern, Originale nicht. Einem Kritikerwort zufolge besteht darin »eines der größten Mysterien der Literatur«. Zumindest aber stehen wir vor einem Paradoxon – oder mehreren.
I. Literarische Werke werden zu Klassikern, weil sie etwas Neues einführen und dieses Neue die Zeit transzendiert: das Klassische wird klassisch, indem es überlebt.
Ein Werk wie Aldous Huxleys Schöne Neue Welt spricht jede Epoche neu an, es verträgt und fordert fortlaufend neue Lesarten, einen neuen Blick, ein neues Hören, es schafft und weitet im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte seinen eigenen Hallraum – mit entsprechenden Erkenntniszuwächsen, einem durch immer neue Auslotungen vertieftem Verständnis, mit sich wandelnden Leseansprüchen, einer zunehmenden Öffnung für das Fremde und entsprechend veränderten Auffassungen von Werktreue, von Verfremdung und Einbürgerung.
Der Klassiker also geht mit der Zeit, der Sprachbewegung, der Rezeption. Er erhält sich durch neue Deutungen am Leben. Huxleys Roman hat nichts von seiner eigentümlichen Faszination eingebüßt; eher dürfte seine Dystopie auf den heutigen Leser in manchem noch bestürzender wirken – wenn man etwa bedenkt, dass sich die Unterhaltungsindustrie Big Brother längst als Showformat einverleibt hat, während wir, als wohlkonditionierte Konsumenten, selbst munter die Big Data liefern.
II. Eine Übersetzung aber ist weniger beweglich als das Original, das immer »in seinem Element« ist (der Sprache). Die Übersetzung, die letztlich eine Lesart fixiert, bleibt zwangsläufig stärker ihrem Zeit- und Sprachhorizont verhaftet, einer spezifischen historischen und kulturellen Verortung. Das lässt sich an der Schönen Neuen Welt sehr schön zeigen, wenn man die ursprüngliche Übertragung von Herberth E. Herlitschka – entstanden 1932 in der krisengeschüttelten Weimarer Republik unter den Bedingungen wachsender Ideologisierung – mit Eva Walchs 1978 für einen volkseigenen Verlag der DDR angefertigten Übersetzung vergleicht oder der jetzt in Zeiten der Globalisierung vorgelegten.
III. Damit stehen wir vor einem weiteren Paradoxon: Das Original scheint uneinholbar, es behält wie Zenons Schildkröte stets einen Vorsprung. Der mag sich zwar immer wieder verringern lassen, nie aber wettmachen. Nehmen wir etwa die eingangs erwähnten Weltcontroller. Bei Huxley schlummert in der Bezeichnung world controller bereits die Bedeutung, die dem (Fremdwort!) Controller bei uns erst in den letzten zwei Jahrzehnten zugewachsen ist (Controlling verstanden als Führungssubsystem, als technisches oder auch politisches Instrument der Regelung und Steuerung); was im Englischen also latent vorhanden ist, wird dort durch die Sprachbewegung freigemacht. Bei der deutschen Neuübersetzung aber musste der Zufall zu Hilfe kommen, nämlich dass der Anglizismus sich inzwischen bei uns (noch dazu im gleichen Sinnbezirk) eingebürgert hat und somit anbot.
IV. Auch Auffassungen darüber, was eine Übersetzung leisten kann und soll, unterliegen dem Wandel; die Haltung zu Einbürgerung versus Verfremdung hat sich deutlich verschoben. (Früher wurde noch aus jedem Sandwich ein Butterbrot.)
Herlitschka war es seinerzeit darum zu tun, den Text auf den Leser zuzubewegen, ihn aus dem »englischen Milieu« in ein »allgemeineres, deutsch gefärbtes« zu transponieren.[1] Solche Eingriffe waren damals gang und gäbe. Der Erstübersetzer der Schönen Neuen Welt ging in seinem Einbürgerungsbemühen so weit, die Handlung nach Berlin zu verlegen und Namen »einzudeutschen«; so wurde aus Mustafa Mond zunächst ein Mustafa Rathenau, dann ein Mustafa Mannesmann, aus dem Wilden John Savage zunächst ein Josef, dann ein (deutscher) Michel! Eva Walch hingegen kam 1978 gar nicht mehr »auf die Idee«[2], Namen und Schauplätze zu verlagern.
Heute, in unserer mobilen, globalen Welt, vertragen Texte noch mehr Fremdes; Eingriffe wie die Herlitschkas verbieten sich, wir empfinden sie als nicht mit den Absichten des Autors vereinbar. Schließlich sind die Namen der Figuren in der Schönen Neuen Welt auf raffinierte Weise kodiert: sie stehen stellvertretend für bestimmte wissenschaftliche, philosophische, politische und wirtschaftliche Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts; sie bieten eine Ahnengalerie der utopischen Gesellschaft und jede Menge versteckte Anspielungen und Seitenhiebe. (Aus diesem Grund – und auch weil wir heute, anders als Herlitschka, Zugang zu Jahrzehnten dauernder intensiver Auseinandersetzung und Forschung zum Gesamtwerk Huxleys haben – schien es so notwendig wie nützlich, dem Roman Anmerkungen beizugeben.)
V. Wie also sieht die Schöne Neue Welt heute aus? Die Namen der Institutionen und Funktionen bzw. Funktionsträger wie auch Slogans und hypnopädische Sinnsprüche, die Huxleys utopischer Phantasie Gestalt verleihen – und nebenbei oft schon (denken wir an den Erzkollektivsänger) für den ironischen Unterton sorgen –, wurden so weit an den heutigen Sprachgebrauch herangeführt, dass auch wir uns in Huxleys Gesellschaft wiedererkennen, es sollten Verfahren und Techniken (etwa Emotion Engineering) anklingen, die mittlerweile Realität sind, ohne dass Vokabeln auftauchen, die Huxley nicht zur Verfügung standen oder die er nicht verwandt hat, obwohl es sie gab (etwa Gene, Genetik, genetisch).
Insgesamt musste die Übersetzung (im Sinne unserer Aufholjagd) »schneller« werden – und hintersinniger. Denn Witz, Sarkasmus und Ironie der Schönen Neuen Welt schienen etwas auf der Strecke geblieben zu sein. Huxleys Werk ist schließlich eine utopische Satire auf die Konsumorientierung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung unserer Gegenwart – und bei aller Düsternis sehr, sehr komisch.
Das beginnt schon mit dem furiosen Auftakt, der so geschickt das Problem der Informationsvermittlung löst (wir dürfen uns sozusagen einer Führung durch die Abteilungen des City Brüters anschließen, wir bekommen den gesamten Produktionsablauf von der Embryonenauswahl und -vermehrung über Prädestination und Konditionierung vorgeführt und begegnen zugleich einigen der Hauptprotagonisten), auf den im dritten Kapitel eine großartige Montage folgt, bei der die Ausführungen des Weltcontrollers Mustafa Mond zu Vorgeschichte und Entstehung der Neuen Welt kontrastiert werden mit aktuellen Praktiken (dem Konsum, der Promiskuität) und auch mit dem Unbehagen, die sie dem Außenseiter Bernard Marx bereiten. Huxleys Dramaturgie ist sehr stimmig: Nach der Besichtigung der Neuen Welt wird »das Andere« eingeführt: die Gegenwelt des Reservats und mit ihr der Wilde, an dem dann Konfrontation und Konflikt der Positionen entwickelt werden, die zur – versuchten und scheiternden – Revolte führen (Slapstick pur!). Und schließlich folgt einer der Höhepunkte des Romans: die Debatte mit dem Weltcontroller Mustafa Mond über Kunst, Freiheit, Vernunft, Wissenschaft, Religion, Glück – also Sinn und Zweck. Doch endet das Buch nicht etwa mit dieser Debatte, sondern Huxley demonstriert mit dem Rückzug, der medialen Verfolgung und schließlich dem Freitod des Wilden, dass es kein Entrinnen, keine Nischen in dem unerbittlichen Getriebe des Systems gibt, und macht so deutlich, dass nicht etwa John Savage der Held seiner Geschichte ist. Nein, jede Position ist problematisch, ist uneindeutig; es werden zwei gleich abschreckende, in sich widersprüchliche Optionen aufgebaut, und die Ambiguität ist gewollt. Huxley überlässt die Deutung, die Beurteilung dem Leser. Und der liest heute anders.
[1] So Herberth E. Herlitschka in einem Brief an Insel-Verleger Anton Kippenberger. In: Maria Reinhard: Brave New World: The Correlation of Social Order and the Process of Literary Translation. Waterloo, Ontario, Canada 2008.
[2] A.a.O.; aus einer Email von Eva Walch an Maria Reinhard.

1932 erschien eines der größten utopischen Bücher des 20. Jahrhunderts: ein heimtückisch verführerischer Aufriss unserer Zukunft, in der das Glück verabreicht wird wie eine Droge. Sex und Konsum fegen alle Bedenken hinweg und Reproduktionsfabriken haben das Fortpflanzungsproblem gelöst. Es ist die beste aller Welten – bis einer hinter die Kulissen schaut und einen Abgrund aus Arroganz und Bosheit entdeckt.
Endlich erscheint die längst fällige Neuübersetzung von Uda Strätling. Das prophetische Buch, dessen Aktualität jeden Tag aufs neue bewiesen wird, erhält eine sprachlich zeitgemäße Gestalt.